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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 11.1916

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Werner, Alfred: Grundwissenschaft und Ästhetik
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https://doi.org/10.11588/diglit.3817#0447

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442 BEMERKUNGEN.

wegs der unseren Sinnen gebotene Empfindungsreichtum im Sinne Kants, sondern
das Gehabte überhaupt getroffen werden. Im Gegensatz zu jeder Erkenntnistheorie,
die vor allem von vornherein den Unterschied zwischen Erkennendem und Er-
kanntem macht und die Frage stellt, wie das Subjekt in den Besitz des Objekts
gelange, soll von der letzten, unmittelbar gewissen Tatsache des Gegebenen aus
das Allgemeinste bestimmt werden. Das Gegebene als solches enthält zunächst
kein Urteil, es bietet vollkommen vorurteilslose Gewißheit. >Gegebenes ist Ge-
gebenes«, dieses sogenannte Identitätsurteil, ist ein sinnleerer Pleonasmus; ist doch
das logische Prädikat in diesem Falle keine Bestimmung des logischen Subjekts.
Urteile im eigentlichen Sinn des Wortes aber sind Aussagen des Prädikats über
das Subjekt.

Vorurteilslosigkeit im Ansatzpunkt ist die erste Forderung, die an eine einwand-
freie Philosophie zu stellen ist. Diese Vorurteilslosigkeit, die jedoch keineswegs
der Voraussetzungslosigkeit gleichzusetzen ist, bietet die sogenannte »Grundwissen-
schaft« Johannes Rehmkes. Von Wichtigkeit für die Grundwissenschaft wie für die
ästhetische Betrachtung, die dasselbe Prinzip verfolgen sollte, ist die richtige Auf-
fassung des Gegebenen. Man hat den Ansatzpunkt Rehmkes gewöhnlich im Sinne
der immanenten Philosophie verstanden. Auch das jüngst über »die Immanenz-
philosophie« erschienene Buch von R. Ettinger-Reichmann (Göttingen 1916) sieht in
Rehmke einen Hauptvertreter der genannten Richtung. Bei genauerem Hinsehen
jedoch steht die Grundwissenschaft auf ganz anderem Boden als die »immanente Philo-
sophie« W. Schuppes oder der »erkenntnistheoretische Solipsismus« von Schubert-
Solderns. Sofern man nämlich das individuelle Bewußtsein betrachtet, ist das Ge-
gebene sowohl transzendent als immanent. Im übrigen ist die sogenannte Bewußt-
seinsfrage im Ansatz des Gegebenen überhaupt gar nicht gestellt. Die Frage der
Zugehörigkeit des Gegebenen zum individuellen Bewußtsein, sofern sie die Wirk-
lichkeit betrifft — und darauf kommt es hier allein an — wird von Rehmke zur
Beantwortung der Psychologie überwiesen. Die Grundwissenschaft aber ist be-
grifflich der Psychologie übergeordnet und muß vor dieser gelrieben werden. Das
Feld, das die Grundwissenschaft zu bestellen hat, ist das Allgemeinste im Ge-
gebenen, das aufzuweisen und in seinen mannigfaltigen Beziehungen zu erklären ist.

Bei grundwissenschaftlicher Umschau zerfällt das Gegebene in Dinge und in
Bewußtseinswesen. Dingen sind Größe, Gestalt und Ort, Bewußtseinswesen Fühlen,
Denken, Vorstellen, Subjektsein als unverlierbare Bestimmtheiten zugehörig. Die-
selben unverlierbaren Eigenschaften, die wir an Dingen und Bewußtseinswesen
überhaupt feststellen, finden wir auch an den besonderen Dingen und Bewußtseins-
wesen, die wir Leiber und Seelen nennen.

Der Mensch ist eine Einheit aus Leib und Seele. An die Grundwissenschaft
und ihre Methode der Zergliederung des Gegebenen schließt sich die Ästhetik und
allgemeine Kunstwissenschaft. Die Fragen künstlerischer Tätigkeit und ästhetischen
Genießens, die von den meisten Ästhetikern als Hauptprobleme hingestellt werden,
sind sekundärer Natur und werden mit Hilfe der grundwissenschaftlich gegründeten
Psychologie gelöst'). Die Loslösung der Kernprobleme der Ästhetik von der
Psychologie ist das einzige Mittel, um sie vor unwissenschaftlicher Gesetzlosigkeit

') Vgl. I. Reicke, Das Dichten in psychologischer Betrachtung in dieser Zeit-
schrift. Juliheft 1915. A. Werner, Zur Begründung einer animistischen Ästhetik in
dieser Zeitschrift. Juli- und Oktoberheft 1914. Auch bei diesen in wesentlichen
Punkten grundwissenschaftlich orientierten Schriften ist die überwiegende Bedeutung
der Grundwissenschaft gegenüber der Psychologie nicht gebührend hervorgehoben.
 
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