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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 11.1916

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BESPRECHUNGEN. 433

habener sind. Daher tauchen wir gern tief unter in den heiligen, kühlenden
Quell der Töne, aus dem uns eine allgemeine freudige Versöhnung zufließt, ziehen
uns still zurück in das Land der Musik, ... wo alle unsere Zweifel und Leiden
sich in ein tönendes Meer verlieren. . . . Wohl dem, der . . . sich den sanften und
mächtigen Zügen der Sehnsucht ergibt, welche den Geist ausdehnen und zu einem
schönen Glauben erheben. Nur ein solcher ist der Weg zur allgemeinen, um-
fassenden Liebe, und nur durch solche Liebe gelangen wir in die Nähe göttlicher
Seligkeit (215).

Mit bewundernswertem Feingefühl unterscheidet Wackenroder zwei Arten
Musik zu hören. Die erste besteht in vollkommen passiver Hingabe, die zweite in der
gleichzeitigen Betätigung der Phantasie. Bald ist seine ewig bewegliche Seele ganz
ein Spiel der Töne, es ist ihm, als wenn sie losgebunden vom Körper wäre und
freier umherzitterte, oder auch als wäre sein Körper mit zur Seele geworden, so
frei und leicht wird sein ganzes Wesen von den schönen Harmonien umschlungen,
und die feinsten Falten und Biegungen der Töne drücken sich in seiner weichen
Seele ab. Bald wieder kommt es ihm so vor, als sähe er einen munteren Chor von
Jünglingen und Mädchen auf einer heiteren Wiese tanzen. Ja, manche Stellen in
der Musik werden ihm so klar und eindringlich", daß die Töne ihm Worte zu sein
scheinen. Mit offenbarer Hindeutung auf die Allegri Mozartscher Symphonien und
Beethovenscher Sonaten schildert er, wie diese Tonstücke in ihm mannigfaltige Ge-
fühle erregen, die wiederum in entsprechende sinnliche Bilder und neue Gedanken
sich umsetzen (213). Er schildert die wunderbaren, wimmelnden Heerscharen der
Phantasie, die die Töne mit magischen Bildern bevölkern und die formlosen Re-
gungen in bestimmte Gestalten menschlicher Affekte verwandeln, welche wie gau-
kelnde Bilder eines magischen Blendwerks unseren Sinnen vorüberziehen. Wacken-
roder bleibt sich aber dessen bewußt, daß diese Zutaten der Phantasie rein sub-
jektiv sind, und sich daher bei jedem Hörer anders gestalten können (220). Mit
hellseherischer Kraft ahnt er den letzten Beethoven, ja Chopin und Schumann (221).
Er führt die Gedanken der Sturm- und Drangperiode weiter, verarbeitet, vertieft und
klärt sie, erschließt darüber hinaus Wahrheiten, die erst Hegel und Schopenhauer,
ja zu einem Teil erst Hanslick wiederfinden sollten, und wird so zu einem wich-
tigen, nicht zu übergehenden Gliede in der Entwicklung unserer Wissenschaft (222).

Gold schmidt will mit seinem Buche den Nachweis erbringen, daß das 18. Jahr-
hundert wie für die allgemeine Ästhetik so auch für die Musikästhetik im beson-
deren grundlegend war (10), daß es vor allem für das historische Verständnis der
Musikästhetik des 19. Jahrhunderts die unentbehrliche Voraussetzung bildet (222, 261).
Dieser Nachweis ist ihm dem vollen Umfange nach geglückt. Es kann zwar nicht
gesagt werden, daß es ihm gelungen ist, Übersichtlichkeit und leichte Lesbarkeit zu
erreichen. Allzu ausführlich scheint seine Kritik der Kritiken von La Cepede
(347—398), Ginguene (399—412) und Heinse (422-447) geraten zu sein. Die
Zweiteilung des Ganzen stellt sich vom Standpunkt des Ästhetikers aus kaum als
ein Vorzug dar, da sie die einzelnen Charakterbilder zerreißt und ihre nachträgliche
mühsame Wiederzusammenfügung notwendig macht. Auch darf füglich bezweifelt
werden, ob Goldschmidt gut daran getan hat, die nationalen Entwicklungsreihen zu
mischen anstatt jede einzelne als abgeschlossenes Ganzes zu behandeln.

Von größerer Bedeutung ist Goldschmidts Stellung zur modernen wissenschaft-
lichen Ästhetik im engeren Sinn, wie sie bei seiner schon erwähnten Auseinander-
setzung mit Lipps und bei seiner Würdigung Herders zutage tritt. Er verzichtet darauf,
Herders Verhältnis zu Kant zu berühren (183), geht also gerade an dieser entschei-
denden Stelle einer Entscheidung aus dem Wege. Dieser Verzicht würde bei einem
 
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