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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 23.1929

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Petsch, Robert: Begriff und Anfänge des dramatischen "Handelns"
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https://doi.org/10.11588/diglit.14175#0207
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BEMERKUNGEN.

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hier gebärdenspielerischen) Gattung, die sehr tief in der Menschennatur verwurzelt
ist und sich bei den Südländern immer besonders kräftig entfaltet hat, die auch
ihrem Wesen und ihrer Triebkraft nach viel weiter reicht als jene mimischen Ge-
bilde, selbst die von der Meisterhand des Epicharmos, der das mimische Spiel
bereits zu einer primitiven Komödie umgestaltet hat, bei dem also die dem mimi-
schen Spiel innewohnende Tendenz auf das Drama hin bereits verwirklicht worden
ist. Wir wissen sehr wohl, daß die fahrenden Künstler, die etwa komische Szenen
oder kompliziertere Gebilde mimischer Art „aufführten", nicht die eigentlichen
Stammväter der attischen Schauspieler gewesen sind. Diese mögen mit den Sän-
gern von Dithyramben in viel näherer Beziehung stehen. Aber was ich behaupte
und vom Standpunkt der Literaturwissenschaft aus vertreten muß, ist dieses, daß
weder ein chorischer vrcoy.ga^g noch ein Sprecher, wie wir ihn aus dem späten
Theseus-Dithyrambus des Bakchylides kennen, sich jemals zum tragischen Schau-
spieler hätte entwickeln, daß niemals aus jenen „Gesprächen" und „Bildern"
hätten „Szenen" werden können, wenn es keine Mimen und keine mimischen
Spiele gegeben hätte. Der Agonist konnte ihnen ihre empirischen Kniffe und
Griffe, ihre Tricks und Wendungen, ihre Lazzi und ihre sentimentalen Gebärden
(etwa im Sinne von „des Mädchens Klage") nicht ablernen. Aber jeder geborene
Schauspieler und jeder von Hause aus dramatisch veranlagte Mensch erlebte ange-
sichts mimischer Vorführungen ganz gewiß Dinge, die über diesen Bereich weit
hinausgriffen und fühlte darstellerische Kräfte sich regen, die auf der gleichen
Linie hinüberstrebten in ungeahnte Tiefen menschlichen und kosmischen Erlebens.
Aischylos ist ja, wie auch Snell eigens hervorhebt, vom Schauspielerberuf aus-
gegangen. Er hat die Entwicklungsmöglichkeiten der mimischen Kunst gewiß am
eigenen Leibe erlebt. Wie stark er mit der Kunst eines Epicharmos u. a. grund-
sätzlich verwachsen war, zeigen auch seine vollendetsten Werke noch. Die
mächtige Aufgipfelung der Kassandraszene ist ein Zeugnis dafür, nicht das einzige.
Sie ist undenkbar ohne die stärkste Mitwirkung körperlicher Beredsamkeit — auch
im bannartig wirkenden Schweigen des seherischen Weibes gegenüber der sich stei-
gernden Brutalität der Königin. Dergleichen lernt sich nicht im Dithyrambus und
doch wollte es in den Grundzügen erlernt sein, ehe es zu so gewaltiger Wir-
kung innerhalb des Dramas entfaltet werden konnte. Snell weist wiederholt darauf
hin, wie sehr Aischylos noch in seinen älteren Dramen eine gewisse barbarisch-
exotische Farbigkeit und Seltsamkeit bevorzugt. In lebendiges Spiel übersetzt hat
dergleichen von jeher der Mimus, vielleicht zunächst mit derb-satirischer Spitze,
weiterhin doch mit der reinen „Lust am Anderssein", am „Rollenspiel" auf einer
wie immer gestalteten „Bühne"; und darin liegt eine der stärksten, zuletzt doch auf
das Drama hindrängenden Triebkräfte im Menschen. Die reichste und zugleich
tiefste Entfaltung des Gegensatzes zwischen hellenischer aaxpQoovvr] und barbarischer
vßgig mit Hilfe eines sinnfälligen, durchaus „bühnischen" Symbols ist die große
Teppichszene im Agamemnon. Auch die ausschlaggebende Bedeutung des „Re-
quisits" läßt sich aus keiner der rein-dichterischen Gattungen erklären, die bei der
Entstehung der Tragödie mitgewirkt haben. Sollten wir dergleichen als zufällige
Erfindung als Schöpfung aus dem Nichts auffassen, was gleich mit so sicherer
Gestaltung und so staiker Wirkung vor uns hintritt?

Wir haben bisher nur von der zweiseitigen Szene i. e. S. gesprochen; wir
dürfen nicht vergessen, daß (entwicklungsgeschichtlich) vor und noch neben ihr
der Auftritt des einzelnen Spielers in charakteristischer Haltung mit stark betonter
Dynamik oder mit einer bestimmten fremdländischen Note stand. Auch hier ragte
„das Andere" oder das Seltsame oder das Stärkere in den Kreis des Gewohnten

Zeitschr. f. Ästhetik u. alle. Kunstwissenschaft. XXIII. 13
 
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