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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 23.1929

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Petsch, Robert: Begriff und Anfänge des dramatischen "Handelns"
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https://doi.org/10.11588/diglit.14175#0208
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BEMERKUNGEN.

herein, und an der Hand einzelner „wirksamer Motive" konnte es sich mit über-
raschender Lebendigkeit entfalten und in einem bestimmten Augenblick die Gipfel-
höhe seiner Wirkungskraft erreichen. Auch an solchen Wirkungen ist Aischylos
nicht vorübergegangen und wieder konnte er sie in dieser bestimmten Formrichtung
weder am Epos noch an irgend einer der bestehenden lyrischen und chorischen
Gattungen studieren. Aber der mimischen Kunst (nicht einzelnen mimischen Vor-
bildern) verdanken wir solche kleinen Meisterwerke wie den von Snell hauptsächlich
literaturgeschichtlich analysierten Auftritt des Wächters am Eingang des „Aga-
memnon", bei dem wir das Niederkauern, den Sprung mit samt der „gesprochenen
Bühnenanweisung" eigens hervorheben wollen; oder den Auftritt der kilikischen
Amme in den „Choephoren", deren derber „barbarischer" Humor die ernsteste
Tragik so wirksam unterbricht und gegensätzlich erhöht — wie später die komi-
schen Szenen bei dem praktischen Bühnenmanne Shakespeare, dem Sohn einer sehr
mimusfreundlichen Zeit.

Nur muß man sich vor Augen halten, daß weder der ausgebildete Mimus als
Gattung noch die vorwiegend mimischen Szenen im Drama immer nur komische
Wirkungen anstreben könnten und dürften. Das Zusammenspiel von Wort und Ge-
bärde, die stark realistische, mit Lust am Gegebenen verweilende Darstellung kann
sich gerade so gut auf ernsterem Gebiet, mindestens mit sentimentaler Note be-
tätigen. Das Wehgeschrei des Sophokleischen „Philoktetes" gehört in diese Reihe.
Freilich, das mimische Spiel verharrt im Reiche des primitiven, des vorwiegend
sinnlichen oder in Affektausbrüchen sich erschöpfenden Lebens — ganz so wie seine
stärkste Ausgestaltung in moderner Zeit, das freilich vom Wort (zunächst noch)
gelöste Filmstück. So wenig wie dieses je das Drama ganz ersetzen kann, so wenig
war das ursprüngliche mimische Spiel schon „dramatisch" im engern Sinne und es
mußte seiner ganz besonderen Reize erst entkleidet werden, damit es als Baustein
in das köstliche Gebilde der Tragödie eingehen konnte. Kein bloßer Mimus hat je
seinen Träger vor die entscheidungsvolle Frage gestellt: „rt ägdaa;". Jedenfalls
fühlte sein Zuschauer die Flügelschläge des Schicksals auch dann nicht, wenn er
den Spieler in einer verzweifelten Lage sich winden sah, wie das von seinem Ge-
liebten verlassene Mädchen in jener alexandrinischen Dichtung1). Wo die mimische
Darstellung zum Worte hindrängt, gerät sie sicherlich immer in die nächste Nähe
der Lyrik. Dennoch kann die geistige Verarbeitung des Gegenstandes den Rah-
men des Spiels sprengen, kann immer weitere Hintergründe aufreißen und damit ge-
langen wir zu dem wirklichen Drama hin. Wir können uns von diesen Zusammen-
hängen eine ungefähre Vorstellung machen, wenn wir eine sehr eigentümliche und
fesselnde Neuschöpfung aus dem Geiste des mimischen Spiels, wie das lyrische Ein-
zeldrama des 18. Jahrhunderts, heranziehen, das Goethe mit seiner „Proserpina" auf
eine letzte Höhe geführt und zugleich überwunden hat^). Als selbständige Gattung
ist das Monodrama untergegangen oder hat sich ins Melodrama, also ins Lyrische,
hinübergerettet. Die wirklich triebfähigen und künstlerisch unentbehrlichen Keime
aber, die schon in Goethes kleinem Meisterwerk die Form der Gattung zu sprengen
drohten, kamen erst dann zu voller Entwicklung, als die tief erregte, die letzten
Gründe der Persönlichkeit aufwühlende und die Geltung des Augenblicks entschei-
dende Einzelszene, wie sie das lyrische Scheindrama vorgebildet hatte, in die echte

1) Die ich natürlich nicht als „Mimus" im engern Sinne anspreche, an der man
sich aber eine ungefähre Vorstellung von einer mimischen Soloszene ernster Art
machen kann. Vgl. jetzt Bethe a. a. O., S. 287.

2) Vgl. meine Erläuterung der künstlerischen Form des Dramas in meiner
„Festausgabe" von Goethes Werken, Bd. VIII, S. 192 ff.
 
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