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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 23.1929

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Petsch, Robert: Begriff und Anfänge des dramatischen "Handelns"
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https://doi.org/10.11588/diglit.14175#0209
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BEMERKUNGEN.

195

dramatische Dichtung des deutschen Idealismus übergegangen war. Der Anfang
des „Faust", der Schluß des „Egmont", bedeutsame Höhepunkte der Handlung in der
„Maria Stuart" und in der „Jungfrau von Orleans" zeugen davon, wie stark die
Klassiker hier und sonst im rein Technischen ihren bescheidenen Vorgängern ver-
pflichtet waren und mit welcher überlegenen Kraft sie eine Kunstübung, die, allein
gelassen, weder leben noch sterben konnte, zu einem tragfähigen Baugliede des
großen Dramas umzubilden wußten. Auf einer andern Ebene wiederholte sich hier,
was bei den griechischen Tragikern geschehen war. Der Urverwandtschaft mit dem
Mimus verdankt die attische Tragödie ihre außerordentliche szenische Lebendigkeit:
ihre Fernhaltung von einer streng kausal durchgeführten pragmatischen „Handlung"
im Sinne des Epos und ihre Stärke in der Entwicklung des bewegten und alle see-
lischen und Weltgründe mit bewegenden „Handelns".

Nur wenn wir dieses Element neben ihren andern Grundbestandteilen richtig
einschätzen, können wir uns die ganze Lebensfülle der antiken Tragödie vergegen-
wärtigen und vor allem ein Verständnis dafür gewinnen, wie sich mitten unter den
stärksten religiös-weltanschaulichen Erschütterungen, ja gerade aus den zur Ge-
staltung drängenden Stürmen im Innern des Dichters, ein so starkes ästhetisches
Gebilde entfaltete, das die Fortentwicklung des ernsten Dramas (und nicht des
ernsten allein) auf europäischem Boden bis auf den heutigen Tag bestimmen und
beeinflussen sollte.

Exkurs.

Gewiß ist die Annahme eines lebendigen attischen „mimischen Spiels" zunächst
eine Hypothese und wird es bleiben, solange keine Beurkundung seines Daseins
auftritt. Dazu ist freilich sehr wenig Aussicht vorhanden, denn derartige Äuße-
rungen ursprünglichster volkstümlicher Gestaltung pflegen nicht literarisch ver-
merkt, beschrieben, beurteilt und in größere Zusammenhänge gebracht zu werden,
solange sie nicht selbst literarische Form angenommen haben. Daß die Griechen
bei ihrem südländischen Gebärdenreichtum, bei ihrer genauen Beobachtungsgabe und
ihrem scharfen Witz mimische Spiele gehabt haben, ist einfach selbstverständlich.
Wollten wir aus dem Schweigen der Urkunden auf den Mangel solcher Spiele schlie-
ßen, so begingen wir den Fehler jener Germanisten, die sich allen Ernstes darüber
gestritten haben, ob die ältesten Deutschen wohl eine Liebesdichtung gehabt haben
oder die „Gattung" erst vom Ausland her beziehen mußten. Aber gewiß sind die
ältesten „Schnadahüpfeln" (die natürlich keine paar- oder kreuzweis gereimte Vier-
zeiler von der heutigen Art waren) niemals beobachtet worden, weil sie unterhalb
der Beobachtungslinie, vielleicht sogar außerhalb des Blick- und Hörfeldes der kirch-
lichen Schriftsteller lagen, die uns einiges über die älteste germanische Dichtung be-
richtet haben. Ganz ähnlich lag es natürlich mit dem attischen Mimus, ebenso wie
mit dem urdeutschen, den wir auch nur an seinen späten Umbildungen (am Sommer-
tagsumzug, Perchtenlauf, Fastnachtsspiel usw.) einigermaßen studieren können.

Zur literarischen Gattung freilich, die des Aufmerkens wert war, hat sich der
Mimus auf griechischem Boden in älterer Zeit eben doch nur in Sizilien und in
Großgriechenland erhoben und als solche Gattung erwähnt ihn denn auch Aristo-
teles. Aber es ist höchst bezeichnend (Poetik c. § 8), daß er die sizilischen Mimen
mit den sokratischen Dialogen und mit (satirischen?) Gedichten in Trimetern und
solchen im elegischen Versmaß zusammenfaßt, ohne die starke Verwandtschaft des
Mimus mit dem Drama zu erwähnen. In demselben Kapitel aber, wo er die ver-
schiedenen Möglichkeiten der Zuordnung von Rhythmus, Wort (löyog) und Har-
monie mehr beispielsweise erwähnt als charakterisiert, läßt er die primitive Ver-
bindung der Rede mit den ausprägenden % i)ßaoiv aus, weil er den sizilischen Mimus
 
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