Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 23.1929

DOI Artikel:
Besprechungen
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14175#0308
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
294

BESPRECHUNGEN.

das allein gebende Land; die andern — vor allem England und Deutschland — die
dankbar empfangenden, die aber die letzte Schönheit des französischen Kunst-
empfindens meist nicht zu verstehen imstande sind und sie irgendwie verzerren
und — barbarisieren. Von England her werden in relativ unbedeutenden Einzel-
heiten gewisse Reflexwirkungen zugegeben; Deutschland dagegen erscheint durch-
weg als das unproduktive Barbarenland, das die „elegante" — ein Lieblingswort
des Verfassers —, in sich geschlossene Harmonie des aus französischem Geist ge-
borenen Stils ins schwulstig-gepreßte, unharmonisch-verzerrte umbiegt. Der Köl-
ner Dom ist nur eine, wo er von dem Vorbilde abzuweichen versuchte, verunglückte
Nachbildung der Kathedralen von Beauvais und Amiens; selbst Erwins Werk

— dessen Name übrigens nur ganz gelegentlich und beiläufig erwähnt wird

— muß sich, obwohl es selbstverständlich in den Rahmen der französischen Gotik
eingespannt wird, allerlei ästhetische Maßregelungen gefallen lassen, weil es deut-
schen Geistes einen Hauch verspürt hat. Muß nun schon die Art, wie ein For-
scher vom Range Dehios, in merkwürdigem Gegensatz zu dem durchweg
vornehmen und zurückhaltenden Ton seiner Auseinandersetzungen mit französischen
Forschern, in der Polemik von L. behandelt wird, scharfen Protest hervorrufen, so
darf man es direkt als groben wissenschaftlichen Unfug bezeichnen, wenn in einem
Werke wie diesem, das sich im allgemeinen mit reiner Tatsachenbeschreibung be-
gnügt, politische Gehässigkeit plötzlich mit dem Verfasser durchgeht und z. B. fast
jedesmal, wenn vom Reimser Dom die Rede ist, über die angeblich sinnlose, mör-
derische Zerstörungswut der deutschen Barbaren der Stab gebrochen wird — ohne
jede Rücksichtnahme auf jene von allen kultivierten Deutschen aufs bitterste be-
klagten Kriegsnotwendigkeiten, die das deutsche Militär zwangen, selbst höchste
Kulturwerte zu opfern, wo es die Rettung auch nur eines einzigen Menschenlebens
galt. 10 Jahre nach dem Abschluß des Weltkrieges sollten bei allen Nationen der
Welt solche Insinuationen aus Werken streng wissenschaftlichen Charakters von
allen an der Reinhaltung des Bereichs der objektiven Forschung von Unsauberkeiten
und Fremdkörpern Interessierten mit aller Energie zurückgewiesen werden. Waren
sie bei dem durch schwersten persönlichen Verlust erbitterten Verfasser selbst allen-
falls entschuldbar, so hatte der Herausgeber um so mehr die Pflicht, solche Ent-
gleisungen zu beseitigen.

Werden hier die Grenzen wissenschaftlicher Betrachtung völlig gesprengt, so
liegt ein andrer Mangel des großen Werkes eben in der Eigenart seiner wissen-
schaftlichen Auffassungsweise mit einer gewissen inneren Notwendigkeit beschlos-
sen. L. ist, wie gesagt, vor allem die technische Seite der Dinge vertraut; hier
verfügt er bis in die kleinsten Einzelheiten über souveräne Kenntnisse und meister-
hafte Darstellungsform. Aber sein Blick wird durch die Fülle der Details immer
wieder von den Wesenheiten, deren Ausdruck sie sind, abgelenkt; fast nirgends
sucht sein Blick durch die schimmernde Außenseite der Erscheinungen zu deren
geistigem Kern durchzudringen. Vom „gotischen Geist", dem oft und mit schönen
Erfolgen vor allem von deutschen Gelehrten — Dehio, Worringer, Pinder, Dvofak,
Gall u. A. — beschworenen, ist nirgends die Rede. So sehr geht der Verfasser sol-
chen Untersuchungen und Deutungen aus dem Wege, daß man die Vermutung nicht
abweisen kann, er fürchte sich, am Wege lauernde Gespenster zu beschwören.
Nichts bezeichnender dafür, als die ersten Kapitel des ersten Bandes, die von der
Entstehung des gotischen Stiles handeln: da wird die gewaltige geistige Umwäl-
zung, wie sie im tiefsten in neuen Formen und Sehnsüchten mittelalterlicher
Religiosität wurzelt, zu dem rein technischen Problem der besseren Überwölbung
der einzelnen Kirchenkompartimente herabgewürdigt. Man hat das Gefühl, daß der
 
Annotationen