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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 23.1929

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https://doi.org/10.11588/diglit.14175#0313
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BESPRECHUNGEN.

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innere mich an alles", sagt Friedrich Schlegel, „auch an die Schmerzen, und alle
meine ehemaligen und künftigen Gedanken regen sich und stehen wider mich auf."

Der Hang der Romantik zur Geschichte verknüpft sich eng mit ihrer Vorliebe
für das Fremde, Geheimnisvolle und Unbekannte. Ja, die Scheu vor dem Realen
und Wirklichen wird mitunter zu einer wahren Flucht in die Geschichte, die ihm
halb und halb das Reich des Mystischen, der Phantasiebetätigung, der Sehnsucht
verbleibt. Der Barock kennt weder Mystizismus noch Askese. Dem so stark im
Diesseits wurzelnden Geist ist das Unbekannte schon von vornherein ein Übel. „Daß
wir die eigenen Übel lieber tragen als zu fremden fliehn", gesteht sich Hamlet. „Nur
daß die Furcht vor etwas nach dem Tode den Sinn verwirrt." Diese Furcht kennt
die Romantik nicht, so wie die manieristische Gotik des 14. Jahrhunderts sie nicht
kannte. Dem Barock wiederum liegt jede Todessehnsucht fern. Was man aus
diesem Leben, aus dieser Welt nicht herausholt, bleibt dem Menschen verloren. Also
Handlung, nicht Hoffnung, Genießen aber nicht Sehnsucht. Der weltliche Geist, der
das Hochbarock so stark von der Zeit der Gegenreformation abhebt, beherrscht
selbst die am tiefsten philosophisch veranlagten Gemüter. Selbst Pessimismus
führt nicht zur Weltflucht, wenn auch zur Einsamkeit. Die Flucht vor den Übeln
der Welt wird zu einer Flucht in die höhere Schönheit der Welt, zu den reinen
Höhen im Sinne Ibsens, nicht ins Jenseits. Verklärung des Ärmlichen, Steigerung
des Häßlichen zum Triumphalen liegt dem Barock sehr viel näher als frühzeitiger
Verzicht oder mystische Verdunkelung. Rembrandts Spätwerke enthalten trotz aller
Härte und Kraßheit einen geheimen Optimismus, einen stillen Jubel in jenem strah-
lenden Leuchten der Farben, jenem edelsteinhaften Glühen aus Nacht und Schatten,
aus Elend und Armut heraus. Der barocke Philosoph ist ein Sonderling und Revo-
lutionär (Ibsen), der manieristische ein einsiedlerischer Träumer (Wackenroder).

Wir sehen also: die „christliche" Richtung des 19. Jahrhunderts, das „flüchtige
Lied von Tod und Vergänglichkeit" trifft nur auf den romantischen Manierismus zu,
nicht auf den Barock. Weder der Barock des 17. Jahrhunderts, noch der des 19. ist
„unselig, sehnsüchtig, weltflüchtig". Der barocke Mensch verzweifelt nicht an der
Lösung seiner Aufgaben, sein Streben in die Weite, ins Unendliche hinaus führt
zum Ziel. Jeder Schritt wird ein Sieg, ein Erlebnis. Er ist voll des Dankes über
die Wunder und den Reichtum der Natur. Sein Leben gleicht in der Tat einem
Rausch, einem Taumel, einem trunkenen Gesang. Das Leben des Romantikers
gleicht einem Traum. „Ein Traum, ein Leben" könnte man fast jedes romantische
Werk überschreiben. Der Rausch zieht das Leben in den Augenblick hinein, der
Traum führt es vom Augenblick fort in die Zukunft, ins Unbestimmte. —

Aus jenem Verkennen der Doppeltheit des Unendlichkeitsprinzips erklärt sich
die merkwürdige Umkehr, die die Begriffe Realismus und Idealismus gegenüber
dem landläufigen Gebrauch in der Strichschen Terminologie finden. Sicherlich ist
die Romantik idealistisch, aber trifft dasselbe auch für Shakespeare, Velasquez, d. h.
für den Barock des 17. Jahrhunderts zu? Und ebenso muß es doch für jeden Un-
befangenen verwunderlich erscheinen, Schiller und Goethe nicht unter den Idealisten
zu finden. Die „Idea" ist ein seit der Antike immer wieder in der Kunstthecrie
auftauchender Begriff, der in mehr oder weniger engem Anschluß an Plato das Her-
aussuchen des Allgemeinen aus dem Wirrwarr des Zufälligen bedeutet, des Bleiben-
dem aus dem Fluß des sich Ändernden, freilich nicht als gegensätzliches Element
oder mit irgend einer Vergewaltigung der Natur. Denn das aus tausend verschie-
nen Exemplaren herausgezogene Mittlere wird doch niemals der Natur unähnlich
werden. Die „Idee" ist somit in der Klassik nicht naturfeindlich, sie ist objektiv,
d. h. von den Objekten abgezogen, aber niemals real. Es existiert kein wirkliches
 
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