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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 23.1929

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https://doi.org/10.11588/diglit.14175#0312
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298

BESPRECHUNGEN.

auf das Eine und Einzige hin, aber nicht der ewig gleiche Ablauf der Kette, nicht
das Darüberhinweg, die Entwicklung. Barocke Bildwerke tauchen auf und ver-
schwinden wieder, gewiß. Aber gerade das Sekundenhafte des Auftauchens wird
als aufs Höchste zugespitzter Moment, als letzte Vereinzelung erfaßt. Ja man ver-
gißt gegenüber einer solchen Augenblickserscheinung, gegenüber dem sekundenhaft
aufschwebenden Inhalt (man denke an den Zeitraum, der in Dostojewskis „Idiot"
behandelt ist) die Zeit, die Dauer der Versunkenheit in den Moment. Die Zeit steht
still, oder besser, sie steht garnicht in Rechnung. Anders der Manierismus: ihn
interessiert nicht so sehr der Moment selbst wie die Reihe, die „unendliche Me-
lodie".

Ewigkeit ist also der gemeinsame Gegenpol von Klassik und Manierismus zu
dem Augenblicksprinzip des Barock, Unendlichkeit der gemeinsame Gegenpol von
Manierismus und Barock zu der Vollendung der Klassik.

So ist auch das Geschichtsbild der Romantik — dem Strich immer wieder liebe-
volle Behandlung widmet — so völlig anders als das des Barock. Beide inter-
essieren sich im Gegensatz zur Klassik für Geschichte, aber beide von einem ande-
ren Standpunkte aus. Die barocke Geschichtsschreibung hält sich an Daten, Einzel-
fakta, Persönlichkeiten. Zusammenhänge werden nur als Kausalfolgen gewertet,
nicht auf ihren Ideengehalt geprüft. Die barocke Forschung erschöpft sich leicht
in Materialhäufung, im Detail. Der Manierismus baut Systeme, konstruiert Zusam-
menhänge, sucht nach Parallelen und endet fast unvermeidlich beim geschichtlichen
Gesetz. Barocke Geschichtsschreibung ist objektive Geschichtsschreibung, roman-
tische ist Geschichtsphilosophie. Aus der Vergangenheit wird die Zukunft erschlos-
sen, sie wirkt ein auf die Gegenwart. Nicht als bloßer Erfahrungsschatz, sondern
als Determinismus. Niemand kann sich dem geschichtlichen Gesetz entziehen,
seine Erkenntnis bedeutet eine Bereicherung. „Glück ist der Sinn für die Zeit,
das Talent für die Historie", sagt Novalis. Aber das ist nicht barocke Seligkeit in
der Fülle des Wissens und Kennens, sondern fatalistische Freude an der Dauer
und Sicherheit des Geschehens selbst. Nicht auf dem Inhalt, auf Zeit und Historie
liegt hier der Nachdruck, sondern auf dem Talent, dem Gefühl für das Geschehen
schlechthin, gleichgültig welcher Art. „Den Strom der Geschichte durch sich rau-
schen fühlen" bedeutet jenen Schauer des Allzusammenhangs empfinden, in dem
das Einzelne und der Einzelne wesenlos wird.

So ist auch Geschichte für den romantischen Menschen nicht das, was über
das gewöhnliche Leben hinausragt, etwas was wie ein Roman, eine Erzählung als
etwas Besonderes und Außerordentliches, aber doch Fremdes an uns vorüberzieht.
Geschichte bedeutet eher für den klassischen Menschen Unterbrechung des Sei-
enden, „Krieg und Kriegsgeschrei"; der romantische Mensch steht mitten in der
Geschichte, sein Leben ist Geschichte und sei es noch so alltäglich und ereignisarm.
Daher empfindet er auch jedes Einzelschicksal als allgemeingültig und ideenerfüllt
und damit aufzeichnungswert und breitet es aus in Briefen und Memoiren, wie
seinerzeit im 18. Jahrhundert. Goethes „Dichtung und Wahrheit" ist kaum eine
eigentliche Biographie; er entwickelt nicht „historisch", sondern ordnet rückschauend
die Dinge von dem Standpunkt des Gewordenen aus. „Entwicklung" schließt bei
ihm stets die Idee des erreichten Zieles in sich. Die romantische Biographie, die
romantische Briefliteratur ist ziellos, wenn auch nicht nur individuell gültig, nicht
objektiv kritisch wie die des Barock. Der romantische Briefschreiber zergliedert sich
nicht wie der barocke und dringt auch nicht durch bis zur klassischen Erkenntnis
der Einheit seiner Person, er selbst ist stets nur Anlaß, um zu anderem zu schreiten,
kein Gefühl, keine Tatsache steht für sich, nichts bleibt ihm beziehungslos. „Ich er-
 
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