Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Hinweis: Ihre bisherige Sitzung ist abgelaufen. Sie arbeiten in einer neuen Sitzung weiter.
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 24.1930

DOI Artikel:
Frydmann, Richard: Vertikaleinfühlung und Stilwillen
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14171#0142
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Bemerkungen.

Vertikaleinfühlung und Stilwillen.

Von

Dr. Richard Frydmann (Wien).

Es wird in unserer Zeit viel über das Wesen des Stilwillens vergangener Kul-
turepochen geschrieben und geredet. Der Gedanke, daß die Objektivationen einer
Zeitkultur untereinander in Relationen tiefster Verbundenheit stehen, ist nicht neu.
Es ist heute nicht mehr nötig, als neue Einsicht etwa die Beobachtung zu ver-
teidigen, daß das gesamte Kulturleben einer Epoche ein zusammenhängendes Ganze
bildet, dessen einzelne Emanationen nicht als singulare, autogone Existenzen im
leeren Räume stehen, sondern daß jede von ihnen Symptom ist; daß ein gewisses
Tiefstes, ein psychisches Undefiniertes, sie alle — mögen sie jetzt Geschichte,
Recht, Kunst, Philosophie, Religion oder wie immer heißen — untereinander zu
derjenigen Synthese vereinigt, in welcher wir eben das Kriterium der „Epoche"
erblicken.

Interessanter ist aber heute die allgemein anerkannte, freilich noch nicht zur
Genüge erklärte Tatsache, daß wir die großen Kulturepochen gerade nach den
Baustilen ihrer Zeit benennen. Wenn wir von Gotisch oder Barock sprechen, dann
denken wir unwillkürlich nicht bloß an eine Gruppe von unter diesen Namen zu-
sammengefaßten Bauwerken, sondern an das umfassende Lebensbild ganzer Kultur-
perioden. Kurzsichtig wäre der Einwand, der uns entgegenhielte, daß eben gerade
für die Baustile eine sprachliche Periodenbezeichnung existiert und sich eingebür-
gert hat; im Gegenteile ist ja eben der Umstand, daß die Periodenbezeichnung der
Baustile jede andere Kulturperioden-Nomenklatur verdrängt hat, der Ausgangs-
punkt unserer Betrachtungen. Die Tatsache, die wir an die Spitze unserer Er-
wägungen stellen, ist also die, daß wir gar wohl von einer gotischen Philosophie,
aber nur schwer von einer Baukunst der Minnesängerzeit sprechen können; daß
für uns der Ausdruck „Regierungsform der Barockzeit" einen klareren und leichter
verständlichen Sinn ergibt als etwa der Ausdruck „Baukunst des unbeschränkten
Absolutismus". Diese Nicht-Umkehrbarkeit, diese Prävalenz des Baustil-
erlebnisses in der Qualität unseres Erlebens vergangener
Epochen muß noch kurz erklärt werden.

Woher nimmt die Baukunst ihre dominierende Stellung innerhalb unseres Er-
lebens einer Zeit?

Sie ist — etwa nur noch mit der Musik diese Qualität teilend — die bedin-
gungsloseste unter allen Künsten. Sind alle anderen Künste „Stücke Natur,
gesehen durch Temperamente", so bedarf es für das architektonische Kunstwerk
nicht der Prämisse eines Naturobjektes, welches die Gestaltung bedingen würde.
Alle Künste sind in diesem Sinne U m - G e s t a 11 u n g, die Architektur und die
Musik sind Künste der reinen, voraussetzungslosen Nur- Gestaltung. Ihr
Stoff ist letzten Endes Natur; aber für sie können wir Zolas Spruch umkehren: sie
 
Annotationen