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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 25.1931

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https://doi.org/10.11588/diglit.14174#0213
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BESPRECHUNGEN.

199

Dramaüsch-barock ist schließlich auch der Stil dieses Werkes, dessen Gedanken-
und Perspektivenfülle den Leser oft ebenso berückend wie beängstigend umschwirrt.
Noch hat C. nicht die ersehnte Einkehr vom Reichtum des Interessanten bei der
Schlichtheit des Monumentalen gefunden. Noch entspricht die Behendigkeit der
Ideen oft nicht der Schlackenreinheit des Ausdrucks; noch fällt nicht selten die
Inkongruenz von bildlicher Anschauung und wissenschaftlicher Abstraktion un-
angenehm auf und läßt die Hellhörigkeit des Prager Literaturhistorikers nicht zur
vollen Auswirkung kommen. Was hätte wohl der in diesem Buch gebührend gewür-
digte Schopenhauer zu den zahlreichen tollen Zeitungssätzen gesagt, was zu Wen-
dungen wie „das Geibelnd-Heyselnde Friseurideal", „ebenso gattet sich andererseits
auch allem Zerebralem immer wieder das Motorische" usw. usw.?!

Vielleicht verschwinden diese üppigen Wortgirlanden bei einer neuen Auflage
und machen einer strengeren Sprachzucht Platz. Die gereinigte Sicht dieser Dar-
stellung wird dann zu den anregendsten Leistungen gehören, über die die deutsche
Literaturwissenschaft unserer Zeit verfügt.

Frankfurt a. M. Ernst Kohn-Bramstedt.

Gerhard Fricke, Gefühl und Schicksal bei Heinrich v. Kleist.
Studien über den inneren Vorgang im Leben und Schaffen des Dichters. Berlin,
Junker u. Dünnhaupt, 1929. 214 S. (Neue Forschung. Arbeiten zur Geistes-
geschichte der germanischen und romanischen Völker. 3.)
Hatte nach Heinrich v. Kleists Tod hundert Jahre lang ein von geringfügigen
Schwankungen abgesehen einheitliches Bild des Dichters in der Literaturgeschichte
gegolten, so war es der Forschung der letzten beiden Jahrzehnte vorbehalten, eine
ganze Reihe von neuen Kleistbildern zu entwerfen. Diese meist höchst eigen-
willigen Kleistdeutungen — als die schlimmsten Verzeichnungen, die z. T. sich
leider einer weiten Verbreitung erfreuen, nenne ich nur die Gundolfs (1922), Braigs
(1925), Stefan Zweigs (1925) und Lazarsfelds (1927)i) — stehen fast alle un-
mittelbar oder mittelbar unter dem Einfluß jene.- modernen psychologischen Frage-
stellungen (Psychoanalyse-), Individualpsychologie u.a.m.), die ihre angeblichen
Lösungen mit Vorliebe dem Bereich des Nieder-Körperlichen, besonders des
Sexuellen, aber auch des Krankhaften, ja Perversen entnehmen, alles Einfache,
Gerade, Gesunde und Starke nicht mehr verstehen noch schätzen, es vielmehr
in ihrem Geiste umzudeuten, umzuwerten versuchen. Wo aber sich der
Einfluß dieser Art Psychologie nicht erweisen läßt, verdanken die mannigfachen
Kleistdeutungen unserer Tage ihre unrühmliche Eigenart jener rücksichtslosen
Eitelkeit heutiger Schriftsteller, die vor nichts zurückschreckt, Tatsachen unter-
drückt oder verredet, biegt und preßt, wenn sie nur eine „Vision" oder „Gestalt"
ihres Helden von verblüffender, blendender Neuartigkeit zuwege bringt. Die große
Masse der Zeitgenossen läßt sich durch den verführerisch vorgetragenen berücken-
den Schein fangen; sachunkundig wie sie ist vermag sie nicht zu erkennen, daß die
neuartigen Deutungen geschichtlicher Größen, also etwa Kleists, weit mehr selbst-
gefällige Dichtungen ihrer Darsteller sind als wissenschaftliche Forschungsergebnisse.

!) Gundolf, Friedrich, Heinrich von Kleist. Berlin, Bondi 1922. Braig,
Friedrich, Heinrich von Kleist. München, 1925; vgl. dazu meine Besprechung in die-
ser Zeitschrift Bd. 20 (1926), S. 252 ff. Zweig, Stefan, Der Kampf mit dem Dämon.
Hölderlin, Kleist, Nietzsche. Leipzig, 1925. (Zweig, Die Baumeister der Welt. 2.)
Lazarsfeld, Sofie, Kleist im Lichte der Individualpsychologie. In: Jahrbuch der
Kleistgesellschaft 1925/26. Berlin, 1927. S. 106 ff.

*) Vgl. die vortreffliche Kritik: Muschg, Walter, Psychoanalyse und Litera-
turwissenschaft. Berlin: Junker & Dünnhaupt 1930.
 
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