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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 25.1931

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https://doi.org/10.11588/diglit.14174#0386
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372

BESPRECHUNGEN.

stufen" und nicht Stilwandlungen das letzthin für alles geschichtliche Leben aller
Nationen entscheidende Ordnungsmoment. Gewiß war es sein Ziel, über die Erkennt-
nis der geistigen Wesenheit einzelner Perioden zu der des ihre Abfolge beherr-
schenden Entwicklungsgesetzes fortzuschreiten: wie für Bechtels „Stile", so waren
aber auch für Lamprechts „Kulturstufen" gewisse eindeutig zu bestimmende see-
lische Haltungen („Diapasone"), in historischen Lebensformen ausgeprägt, die nah-
rungsspendenden, wert- und kulturformenden Energien, die eben durch ihre geistige
Bestimmtheit und Geschlossenheit uns die Möglichkeit zu einheitlicher Zusammen-
fassung aller Lebensäußerungen gewähren; sie sollten also nicht nur zu heuristi-
schen Zwecken dem Forscher subjektiv dienlich, nicht nur gleichsam regulative Prin-
zipien sein, sondern objektive Gegebenheiten des geschichtlichen Lebens selbst. (Nur
daß Lamprecht nicht mit dem Vergleich nur zweier Teilgebiete des geschichtlichen
Lebens, wie es Bechtel tut, sich Genüge sein ließ, sondern in der Speisung aller
seiner Erscheinungen aus den gleichen Urquellen das tiefste Geheimnis völkischen
Werdens zu entschleiern glaubte.) —

Konkret sucht der Verfasser nun seine These an dem Sonderproblem der Spät-
zeit des deutschen Mittelalters, wirtschaftsgeschichtlich-kategorial gesprochen der
Zeit der deutschen Stadtwirtschaft, zu erweisen, indem er diese anderthalb Jahr-
hunderte von 1350—1500 nicht, wie es bisher geschehen sei, als Verfallsperiode die-
ser Stadtwirtschaft, sondern als eine in sich abgeschlossene, stilistisch einheitlich zu
fassende Periode zu erweisen sucht, die man etwa als die des „erwachenden Indi-
vidualismus" (er selbst vermeidet es, ihr einen bestimmten Titel zu geben) bezeich-
nen könnte. Wie, so meint er, die neuere Kunstgeschichte zwischen den Zeiten der
Früh- und denen der Spätgotik, zwischen der Periode der gotisierten Basilika und
denen des Hallenkirchenbaus und des weiträumigen Rathauses einen scharfen Tren-
nungsstrich zu machen sich gewöhnt habe; wie in letzterer an Stelle traditionell
gebundener Auffassung eine bewußte und betonte Traditionsfeindlichkeit getreten
sei; wie Malerei und Plastik aus der religiösen Gebundenheit in Stoff und Empfin-
dung den Weg zu immer größerer Erdennähe gingen, bis zuletzt im individuellen,
fest in den Raum gestellten Bildnis und in der populären Kunst der Blockbücher
und Holzschnittfolgen der Standpunkt auf der breiten Erde erreicht war; wie die
Künstler selbst sich aus der natürlichen Gemeinschaft lösen, in die sie geboren, um
sich zunächst zu Berufsgrupper. und -bünden zusammenzuschließen, dann auch diese
zu sprengen und allein sich ihren Weg zu suchen, — so sei auch in Wirtschaft und
Gesellschaft ein neuer Geist in jener Zeit am Werk: auch hier mehr oder minder
bewußte Abkehr von Tradition und von Eingebundenheit in die Fesseln, die ihn bis-
her in natürliche, konventionelle oder obrigkeitlich gewiesene Schranken gebannt
hätten; dafür überall ein Streben nach energischer, eigenwilliger Betätigung frei
gewordener Wirtschaftsenergien, Eroberung eines unbegrenzten Marktgebiets nach
außenhin, — das alles aber, ohne daß die charakteristischen Symptome der Wirt-
schaftsform, die wir als Kapitalismus bezeichnen, sich schon erkennen ließen. —

Täusche ich mich nicht, so war der Ausgangspunkt für Bechtels kühnen Vor-
stoß die energische Betonung der Staats- und geistesgeschichtlichen Neuorientie-
rung, wie sie Dehio in den wundervollen Einleitungsbetrachtungen zum zweiten
Band seiner „Geschichte der deutschen Kunst" als entscheidend für das Wesen der
spätmittelalterlichen Kunst in Deutschland uns gezeichnet hat und die er sich in
allem wesentlichen zu eigen macht. Nicht um Verfall eines zur Hochblüte getrie-
benen Kunststils, nicht um Welken und Untergang handelt es sich darnach, sondern
darum, daß eine neue soziale Schicht, die des städtischen Bürgertums, eine andere,
 
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