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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 26.1932

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Cassirer, Ernst: Goethe und das achtzehnte Jahrhundert
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https://doi.org/10.11588/diglit.14167#0155
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GOETHE UND DAS ACHTZEHNTE JAHRHUNDERT.

dieser Bescheidenheit zu widerstreiten, wenn die Reflexion daran geht,
auch dieses Webemeisterstück aufzulösen und seinen einzelnen Teilen
gesondert nachzugehen. Immer wenn wir eine derartige Auflösung voll-
zogen haben — und für die philosophische wie für die geschichtliche
Betrachtung von Goethes Werk ist sie freilich unvermeidlich — fühlen
wir daher das Bedürfnis, das mühsam Getrennte wieder zu verknüpfen
und es anschaulich als Einheit vor uns hinzustellen. Und hier ist es
eine glückliche Fügung, daß wir nach dieser Einheit nicht erst zu suchen
brauchen; sondern daß Goethe selbst sie uns - in die Hände legt. Er
selbst hat in einem bedeutsamen Lebensmoment in einer echt-symbo-
lischen Schau alle jene Probleme und alle jene geistigen Motive zu-
sammengedrängt, die wir in unserer Betrachtung im Einzelnen zu ver-
folgen und zu erhellen suchten. Dies geschieht in jener denkwürdigen
Unterredung, die Goethe im August des Jahres 1830, nach Ausbruch
der Julirevolution in Frankreich, mit Soret, dem Erzieher des Prinzen
Karl Alexander, geführt hat. Die ersten Nachrichten über den Aus-
bruch der Revolution waren nach Weimar gelangt und hatten dort alles
in Aufregung versetzt. Im Laufe des Nachmittag des 2. August geht
Soret zu Goethe, und er rindet auch ihn in stärkster Erregung. "Nun"
— so ruft er ihm sogleich beim Eintritt entgegen — was denken Sie
von dieser großen Begebenheit? Der Vulkan ist zum Ausbruch gekom-
men; alles steht in Flammen, und es ist nicht ferner eine Verhandlung
bei geschlossenen Türen." Soret muß diesen Ausruf auf die politischen
Ereignisse beziehen — und er erwidert in diesem Sinne. Aber zu seinem
höchsten Erstaunen wird er gewahr, daß diese Ereignisse Goethe kaum
berührt haben. Wovon er spricht, das sind nicht die Pariser Kämpfe
und Unruhen — es ist eine Sitzung der Akademie, in der der Gegen-
satz zwischen den Theorien Cuviers und denen von Geoffroy St. Hilaire
zum offenen Ausbruch gekommen war. „Die Sache ist von höchster Be-
deutung" — so fährt Goethe fort — „und Sie können sich keinen Be-
griff machen, was ich. bei der Nachricht von der Sitzung des 19. Juli
empfinde. Wir haben jetzt an Geoffroy Saint-Hilaire einen mächtigen
Alliierten auf die Dauer. Ich sehe aber zugleich daraus, wie groß die
Teilnahme der französischen wissenschaftlichen Welt an dieser An-
gelegenheit sein muß, indem trotz der furchtbaren politischen Aufregung
die Sitzung des 19. Juli dennoch bei einem gefüllten Hause stattfand.
Das Beste aber ist, daß die von Geoffroy in Frankreich eingeführte
synthetische Behandlungsweise der Natur jetzt nicht mehr rückgängig
zu machen ist. Die Angelegenheit ist durch die freie Diskussion in der
Akademie, und zwar in Gegenwart eines großen Publikums, jetzt öffent-
 
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