Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 27.1933

DOI Artikel:
Besprechungen
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14172#0078
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
64 BESPRECHUNGEN.

Ganzen geben, das s o zunächst noch gar nicht da ist, sich uns aber ankündigt
in dem Augenblicke, in dem wir seine Lückenhaftigkeit empfinden." (Übrigens
haben diese Dinge nichts mit den Tendenzen zur Auflösung des Kausalprinzips in
der modernen Physik zu tun.)

Das Buch von Scheerer ist bei weitem nicht so ergiebig für den Ästhetiker
wie das von Matthaei. Nur in Einem Punkte leistet es mehr: M. beschränkt sich
nämlich fast ganz auf sinnlich wahrnehmbare Gestalten, aus demonstrationstech-
nischen Gründen sogar auf optische Erscheinungen; dementsprechend sind seine
Untersuchungen in erster Linie für die Ästhetik der „sinnlichen" Künste von
Nutzen. Sch. dagegen handelt ausführlich auch von rein „geistigen" Gestalten,
sogenannten Denkstrukturen; damit wird die Brücke geschlagen zur Ästhetik des
Dichterischen. Denn hier, in der Struktur der Vorstellungen, liegt die Wesensmitte
der Dichtung, nicht im rein Sprachlichen und Klangsinnlichen: Dichtung ist keines-
wegs im gleichen Sinne „Wortkunst", wie Malerei Färb- und Musik Tonkunst
bedeutet. Schon jenes Prinzip des Lückenschließens, das für die G.Th. so wichtig
ist, enthält eine ästhetische Komponente: Spannung und Lösung. Sch. selbst zieht
Kätsel, Witz, Anekdote heran. Mir scheint, daß auch das Aha-Erlebnis wie viel-
leicht jede Intuition mit eigentümlich ästhetischen Lustgefühlen verbunden ist.
Gewiß beruht in solchen Dingen, vor allem im Spannungs-Lösungs-Charakter,
neben der logischen Komposition, der ästhetische Gehalt auch mathematischer
Ableitungen.

Zum Schluß einige Hinweise (Hinweise, mehr nicht), wie etwa dichterische
Phänomene gestalttheoretisch zu fassen und zu deuten wären.

Da ist etwa der Vergleich. Ließe er sich nicht als Transposition einer Gesamt-
gestalt erklären? Erinnern wir uns einer hübschen Metapher vom alten freund-
lichen Brockes: Ihm ist die Hummel ein „Bär der Luft". Dieser Vergleich ist mehr
als die Summe seiner Teile, als welche die Vergleichsbeziehungen, die tertia com-
parationis, zu gelten hätten, hier also etwa die Eigenschaften: brummig, dickpelzig,
plump, täppisch, genäschig auf Honig (vielleicht noch: braun). Man wird zugeben,
daß solche Zerlegung des Vergleichs in einzelne Koordinationen (Streifen) nicht
sein volles Wesen ausmacht; im Gegenteil wirkt sie kalt, rational auflösend; ja,
indem wir unwillkürlich auf „teilerfremde" Züge der verglichenen Objekte geraten,
beginnt der Vergleich zu „hinken"; zerstört wird das intuitive Element, eben das
Gestalthafte, das der Vergleich als Ganzes besitzt über seine Komponenten hinaus,
die uns einzeln gar nicht bewußt zu werden brauchen. Hierauf beruht ja seine
Kraft: Er gibt eine Gesamtgestalt, wie sie ausführlichste Aufzählung nicht leisten
könnte; mit Einem Schlage faßt er viele und verschiedene Einzelzüge zur Einheit
zusammen, Einzelzüge, die sich in ihrer feinsten Tönung vielleicht gar nicht
geradezu benennen lassen. So erklärt sich wohl auch der Bekanntheitscharakter,
den die Dinge durch einen guten Vergleich annehmen, und nicht etwa daraus,
daß das Vergleichsbild uns vertrauter wäre als der Vergleichsgegenstand, in
unserm Falle der Bär vertrauter als die Hummel. (Dieser selbe Gestaltcharakter
ist es auch, der ein erläuterndes Beispiel oder eine bildliche Einkleidung dazu be-
fähigt, bei abstrakten Erklärungen so außerordentlich wertvolle pädagogische Hilfe-
stellung zu leisten.)

Ferner das Symbol. Im symbolischen Gedicht scheinen alle „Moleküle" gleich-
sam magnetisch ausgerichtet zu sein, um eine „Ergänzungssuggestion" (Dehmel)
herbeizurufen. Allerdings empfinden wir nicht notwendig von vornherein eine
„Lücke", das Kunstwerk mag zunächst vollkommen rund und ruhend erscheinen.
Bis plötzlich die „Tiefe" aufgerissen wird und eine neue „Mitte" sich eröffnet.
 
Annotationen