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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 27.1933

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Hoerner, Margarete: Der Stilwandel um 1600
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https://doi.org/10.11588/diglit.14172#0294
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BEMERKUNGEN.

diese Vorliebe des Barock, in der Mitte anzufangen, erklärt sich aus der Übernahme
antiker Gewohnheiten. Aber warum gerade jetzt und warum in dieser Allgemein-
heit? Letztlich doch nur, weil die Erfahrung der ganz ähnlich gelagerten Zeit Helio-
dors dem Dichter um 1600 gerade die Ausdrucksform vermittelte, die seinem
Bedürfnis entsprach, ihm Erleuchtung, Erfüllung, Einklang mit sich selbst gewährte.

" Und dieses Einsetzen in der Mitte der Erzählung ist nie willkürlich gewählt.
Es ist nicht die beschauliche Rückschau odysseischer Berichte, sondern der Kulmi-
nationspunkt selbst, das absolute Zentrum, so daß der Leser von der Geschichte
genau so umspült, umfangen ist, wie der Zuschauer von der Landschaft.

Es erscheint nun merkwürdig, daß bei aller Ähnlichkeit der Situationsanlage
die Landschaft selbst keine ausgedehnte Rolle in den Romanen um 1600 spielt. Und
dennoch kommt es weniger auf die Ausgiebigkeit der Naturschilderung an als auf
die Art und Weise des überhaupt Geschilderten. Nicht jede noch so ausgedehnte
Naturschilderung ist auch schon wahr. Das 18. Jahrhundert mit seinem Riesen-
ballast an Miniaturmalerei ist naturfremder als das frühe 17. trotz seiner ge-
steigerten und vielfach geschraubten Ausdrucksweise.

Will man die Art dieses Naturempfindens um 1600 in eine Vorstellung zusam-
menfassen, so kann man sagen: es ist das Erlebnis des Waldes. Auch dieses gab
es am Anfang des 16. Jahrhunderts schon einmal. Am deutlichsten erkennbar
finden wir es in Venedig in dem Kreis um Giorgione. Freilich, der klassische Mensch
betritt nicht den Wald, er begreift ihn als Idee, als Hintergrund, als Ganzheit, die
erst jetzt darstellungsfähig war, eine Errungenschaft, die ebenso schnell verloren
ging wie sie gewonnen war. Und so wird der Wald erneut Erlebnis um 1600 und
ein Teil der Wirkung der Elsheimerschen Bildchen beruht darauf, daß er Wälder
malt und nicht Bäume, eine Sache, die sich nicht zählen und an die Schnur reihen
läßt, sondern die ein Ganzes darstellt, das unendlich, aber doch umgrenzt, d. h.
gegenständlich ist.

Wir werden die Bedeutung dieses Erlebnisses des Waldes freilich erst dann
ganz verstehen, wenn wir sehen, daß dieser Besitz wiederum verloren ging und
verloren gehen mußte. Im frühen 18. Jahrhundert spielt der Wald keine Rolle mehr.
An seine Stelle treten wieder Bäume, Blumen, Bäche. Brockes beschreibt Wiesen
und auf ihr jede einzelne Blume, nie den Wald. Dem Schäfer des 17. Jahrhunderts
ist der Wald identisch mit der Natur:

„Ach, Amaryllis, hast du denn die Wälder ganz verlassen?", beschwört Myrtill
die Geliebte,

„Und so dich jemand fraget:
Wohin? So sprich: den Wäldern zu,
Da sich Myrtillo klaget."

(Rist)

Die Einbeziehung des Waldes als Selvaggio, Wildnis, ist für den barocken Garten
unerläßlich. Man unterscheidet genau zwischen Kunst und Natur. Natur aber ist
der Wald.

Zum Wald gehören Steine als Grotte, Fels, Berg, Wasserfall, aber nicht die
Wiese, die einzelne Blume, wie das Spätbarock sie bevorzugt, der Baum in seiner
isolierten Schönheit, den die Mitte des Jahrhunderts erst entdeckt. Gemessen an
der komplizierten Auseinanderlegung der Naturerlebnisse des fortschreitenden Jahr-
hunderts wird der Motivenschatz um 1600 arm erscheinen. Es liegt dies begründet
in jener so leicht pathetisch sich gebärdenden Erregung des neu einsetzenden Stils,
die sich gegenüber der größeren Breite und Tiefe des gereiften Stils in einer ge-
wissen Einseitigkeit bei um so stärkerer Betonung des Wesentlichen äußert. Und
 
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