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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 27.1933

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https://doi.org/10.11588/diglit.14172#0310
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296

BESPRECHUNGEN.

Ganzheit und Gliederung' charakterisieren nach Goethe auch jeden Gegenstand,
wie das „ganze Dasein", aus dessen Verschlingungen nichts Einzelnes herausgelöst
werden kann. Darum konnte Goethe, und zwar nicht erst unter dem Einfluß der
idealistischen Philosophie, auch Ich und Außenwelt „niemals sondern". Darum
auch konnte ihm Erfahrung nichts Fixes und Fertiges sein. Wenn er betont: „Es
gibt keine Erfahrung, die nicht produziert, hervorgebracht, erschaffen wird", so
stimmt das mit dem tiefen Sinn überein, in dem schon die Sprache des täglichen
Lebens davon redet, daß wir „Erfahrung machen". Es stimmt aber auch mit dem
Fundamentalgedanken Kants iiberein, der in fast wörtlichem Zusammentreffen mit
Goethe die Erfahrung selber als „Produkt" bezeichnet und von ihrem „Hervor-
bringen" spricht. Auf diese Übereinstimmung hat Weinhandl allerdings nicht ge-
achtet, sonst würde er in dem „Konstitutions"-Gedanken Kants nicht den bloßen
Gegensatz zu Goethe sehen, da Erfahrung auch für Kant nicht einfach, wie Wein-
handl annimmt, Konstitution des Gegenstandes, sondern Aufdeckung seiner Kon-
stituiertheit ist, und da auch bei Kant ebenso auf die Erfahrung, wie auf den Ge-
genstand der Erfahrung ein „systematisches Ganzes" gemeinsamer Konstitutions-
bedingungen übergreift. Freilich braucht bei der Erkenntnis der Übereinstimmung
nicht der Unterschied verkannt zu werden. Vor allem ist und bleibt Goethes Stel-
lung zur Natur eine andere. Man wird — wir kommen darauf noch zurück — auch
den Unterschied der Stellung Goethes zur Natur von derjenigen der Naturwissen-
schaft noch stärker betonen müssen, als Weinhandl es getan hat, und doch wird
man ihm darin zustimmen können, daß es falsch ist, zu behaupten, die Naturauf-
fassung des Dichters stehe überhaupt in keinem Verhältnis zu derjenigen der Wis-
senschaft. In Wahrheit kommt es „auf Tieferes Gemeinsames an", indem es Goethe,
wie er selbst sagt, beim „Studium der Natur" um das „unendlich und ewig Wahre"
zu tun ist, in dem dennoch, also trotz seiner Ewigkeit, nirgends „ein Ruhendes und
Abgeschlossenes vorkommt", sondern vielmehr „alles in einer steten Bewegung" ist.
Und wie die Natur selber „bildsam" zu sehen ist, so muß sich auch der Forscher
„die Art zu sehen bildsam erhalten", um im Bewegen und Werden zusammengehö-
rige funktionale dynamische Gestaltung zu erkennen. Bildung und Umbildung,
Metamorphose und Typus, Urbild und Urphänomen, Gesetz und Allgemeines, All-
gemeines und Besonderes usw. erhalten so ihren logischen Ort und gelangen, wie
Weinhandl im einzelnen nachweist, in Goethes Naturstudium zur Anwendung, wie
in der Natur selber zur Entfaltung. Ohne auf die Fülle der Gesichtspunkte in allen
Einzelheiten eingehen zu können, möchte ich nur auf die feinen Bemerkungen über
„Kategorie und Idee" bei Kant und Goethe hinweisen. Hier zeigt Weinhandl, daß
Goethe in Beziehung auf die Fragen von Transzendenz und Metaphysik energischer
als Kant eben in die metaphysischen Tiefen vorstößt, und daß Goethes Stellung zu
diesen Fragen ausgeglichener ist als diejenige Kants. Darin kann ich nun Wein-
handl ebenso zustimmen, wie ich vorhin hinsichtlich der Erfahrungskonstitution bei
Kant und Goethe meine Differenz hervorheben mußte. Freilich ist beides nicht
gänzlich unabhängig voneinander und isoliert gegen einander, was sich auch später
noch geltend machen wird. Und doch muß zugegeben werden, daß bei Kant, selbst
in der Kr. d. U„ die Unausgeglichenheiten gewiß sehr stark gemildert, nicht aber
gänzlich behoben werden; und zwar vom Problem des Organischen aus. Und mag
rein naturwissenschaftliches Denken durch Kant oft mehr befriedigt werden, als
durch Goethe, so dringt dieser doch in die metaphysischen Problemschichten ener-
gischer ein, als Kant, was Weinhandl. u. a. besonders durch seine breit und tief
angelegten Untersuchungen über Polarität und Steigerung beleuchten kann. Aller-
dings ließen sich gerade von hier aus wiederum, übrigens von Goethe selbst
 
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