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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 27.1933

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Schmarsow, August: Geist und Seele im Rhythmus?
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https://doi.org/10.11588/diglit.14172#0348
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BEMERKUNGEN.

können wir schon auskommen, ohne noch einmal eine neue Lebenswoge des All in
Anspruch nehmen zu müssen, die Ursache also vervielfältigend ohne Not von
außen zu erwarten. Ist es nicht die unmittelbare Folge unsres antwortenden Or-
ganismus, eben die Selbständigkeit, damit aber auch Beschränktheit unsres mensch-
lichen Qliederbaues, in dem die Wucht weiteren Naturzusammenhangs noch sozu-
sagen einen zweiten Reflex oder gar eine Mehrzahl von solchen hervorbringt? Etwa
gleichwie in unsern Gehörsinn die soeben verklungene Tonfolge, noch einmal, wenn
auch schwächer wiederkehrt?

Beim Versemachen wissen wir es ganz genau, daß Silbenzählen und Längen-
und Kürzenwägen nur Mittel zum Zweck der Maßgerechtigkeit sind, die der
Fortsetzung des Regelbetriebs dienen. Und ebenso, daß wir diese der Mutter-
sprache auferlegen, die doch ihre eigenen Wortverbindungen, Redeweisen und Ton-
gefälle schafft, denen wir im Alltagsverkehr überall anstandslos gehorchen. Sie
selbst ist also wie ein vorwärtsdrängendes Roß, dem wir Zügel und Zaum zu-
muten, um es sicher zu gängeln. Und wenn dies ein Dichter nicht anders macht
als ein beliebiger Stallknecht, so haben wir doch im Unterschied vom Gaul des
letzteren ein hochveredeltes Geschöpf für den Aufschwung des ersteren im Sinn,
und denken wohl: wehe dem Poeten, wenn ihm der „Pegasus" versagt. Wer ist
denn das? fragt auch der gefeierte Jockei neben uns. Das ist der Name für ein
schnelles Rennpferd, dem außer den vier Läufern noch an den Schultern vorn ein
Paar von Flügeln gewachsen ist, damit es sich in die Lüfte hinaufschwinge und
mit dem Wind in die Wette eilen könne. Er ist auch der doppelt bewegliche Träger
des Musensohnes, den wir Dichter nennen, weil er sich auch ohne Sattel selbst da
noch, in allen Höhen, das Tier zu lenken fähig zeigen soll. Das ist also nur ein
selbst schon erdichtetes, oder doch bereichertes Bild, das ursprünglich gar aus dem
Wasser stammt, und das Einzelgeschöpf des Meeresgottes Poseidon an die Stelle
der unübersehbaren Scharen setzt der vom Ozean heranbrausenden Wogen des
ruhelosen Elements. Jede einzelne wälzt sich hervor, bäumt sich und steigt, bis
zum Überschwall, in dem sie dann auseinanderbrandet und schäumend zerrinnt.
Denken wir den Reiter hinzu, so wird er getragen, gehoben und gestürzt, es sei
denn er sitze fest mit klammernden Beinen, und wie zusammengewachsen mit der
starken Kreatur.

Dies heraufbeschworene Bild aber gehört ersichtlich der plastischen Phan-
tasie der Griechen an, und das Urbild ist das Leben des Meeres im allseits offenen
Verkehr mit dem Menschengeschlecht auf den Inseln und Küsten bis hinauf ins
rossereiche Thessalien. Jede neue Woge scheint nur eine Wiederholung der ersten,
die sich vor unserm Auge verkörperte und Menschengestalt hinzugewann. Und
die Woge selbst bleibt es, die den Reiter trägt, wie den Schwimmer draußen. Der
Strom des Lebens geht durch den Dichter hin, oder er geht wohl gar einmal mit
ihm durch, auf dem Rücken des Pegasus, wo wir nur noch vom „Schwung der
Begeisterung" zu reden wagen. Das ist dämonische Steigerung! wissen die Andern,
und lenken uns so zurück zu der Frage, von der wir ausgegangen. Auch gotterfüllte
Sänger sind verschiedene Naturen: der dionysische hier schwärmt noch im Rausche
weiter, wo der apollinische schon in lichter Klarheit menschlich verständliche
Sprache meistert.

Selbst ein Ästhetiker wie Friedrich Theodor Vischer verwandelte sich auf dem
Katheder, in einem Augenblick. Er schloß eine Stunde seiner Fausterklärung mit
dem Ausruf: „Und das, meine Herren, ischt Geischt!" Dann aber war er plötzlich
„Auch-Einer" von den Pfahlbauten des Sees draußen, die am ewigen Pfnüsel leiden,
sprachs, räusperte sich kräftig, und spuckte hinunter auf den Fußboden des Hör-
 
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