Weltkrieg und Literaturwissenschaft
Von
Dr. T. Kalkschmidt, Marburg/Lahn
Die folgenden Gedanken und Gesichtspunkte gehören der Nachkriegs-
generation an und möchten von daher ihr Recht und ihre Notwendigkeit,
aber auch ihre Entschuldigung und Grenze nehmen. Die Forderung, die
Wissenschaft habe die Voraussetzung ihrer Zeit anzuerkennen und die
Gebundenheit an eine solche Voraussetzung nicht nur als Beschränktheit
und Mangel, sondern vor allem als den tragenden Grund der geistigen
Welt und als einen entscheidenden Erkenntniswert anzusehen, ist heute
bereits so oft ausgesprochen worden, daß sie Gefahr läuft, nicht mehr ver-
standen zu werden. Es wird immer wieder notwendig sein, dem für richtig
und wahr Erkannten und Bekannten die Maske der Selbstverständlich-
keit und Alltäglichkeit vom Gesicht zu nehmen und ihm die manchmal so
überraschenden Folgerungen abzugewinnen. Die allgemeine Bekanntschaft
mit dem Gegenstand, die uns ganz erfolgreich vor dem vertrauten Umgang
mit ihm schützt, wollen wir in folgendem zu beseitigen versuchen.
H. Langenbucher schreibt in seinem Buch „Volkhafte Dichtung der
Zeit"1), er habe eine Gliederung nach Themen und Stoffen bevorzugt. Da-
bei habe er auf beglückende Weise erleben dürfen, „mit welch innerer
Selbstverständlichkeit die deutsche Dichtung der letzten Jahrzehnte das
Leben des Volks mit ihren Werken begleitet--". Auf die Anwendung
der herkömmlichen literargeschichtlichen Begriffs-, Epochen- und Schul-
bezeichnungen habe er verzichten können. „Ismen" besäßen im heutigen
kulturellen Leben kein Recht mehr. Wilhelm Stapel2) formuliert: „Dich-
tung ist nicht angewandte Ästhetik, sondern Lebenshilfe". Die „ewigen"
Fragen der Gemeinschaft, das politische Gesetz der Dichtung müssen an
Hand unseres heutigen politischen Erlebens erschlossen werden. Wir ste-
hen noch am Beginn. Um das Lebendige geht es.
Der Vorwurf, der hier gegen die Literaturwissenschaft
und Ästhetik überhaupt erhoben wird, ist deutlich spürbar. Daß die Lite-
raturwissenschaft nicht einmal fähig sein soll, ernsthaften Bemühungen
wie denen Langenbuchers um die gegenwärtige Literatur das Handwerks-
!) „Volkhafte Dichtung der Zeit." 2. Aufl. 1938. S. 12 t
2) Aufsatz: „Die deutsche Dichtung in der Schule" im „Deutschen Volkstum",
Jahrg. 1935, H. 3.
Von
Dr. T. Kalkschmidt, Marburg/Lahn
Die folgenden Gedanken und Gesichtspunkte gehören der Nachkriegs-
generation an und möchten von daher ihr Recht und ihre Notwendigkeit,
aber auch ihre Entschuldigung und Grenze nehmen. Die Forderung, die
Wissenschaft habe die Voraussetzung ihrer Zeit anzuerkennen und die
Gebundenheit an eine solche Voraussetzung nicht nur als Beschränktheit
und Mangel, sondern vor allem als den tragenden Grund der geistigen
Welt und als einen entscheidenden Erkenntniswert anzusehen, ist heute
bereits so oft ausgesprochen worden, daß sie Gefahr läuft, nicht mehr ver-
standen zu werden. Es wird immer wieder notwendig sein, dem für richtig
und wahr Erkannten und Bekannten die Maske der Selbstverständlich-
keit und Alltäglichkeit vom Gesicht zu nehmen und ihm die manchmal so
überraschenden Folgerungen abzugewinnen. Die allgemeine Bekanntschaft
mit dem Gegenstand, die uns ganz erfolgreich vor dem vertrauten Umgang
mit ihm schützt, wollen wir in folgendem zu beseitigen versuchen.
H. Langenbucher schreibt in seinem Buch „Volkhafte Dichtung der
Zeit"1), er habe eine Gliederung nach Themen und Stoffen bevorzugt. Da-
bei habe er auf beglückende Weise erleben dürfen, „mit welch innerer
Selbstverständlichkeit die deutsche Dichtung der letzten Jahrzehnte das
Leben des Volks mit ihren Werken begleitet--". Auf die Anwendung
der herkömmlichen literargeschichtlichen Begriffs-, Epochen- und Schul-
bezeichnungen habe er verzichten können. „Ismen" besäßen im heutigen
kulturellen Leben kein Recht mehr. Wilhelm Stapel2) formuliert: „Dich-
tung ist nicht angewandte Ästhetik, sondern Lebenshilfe". Die „ewigen"
Fragen der Gemeinschaft, das politische Gesetz der Dichtung müssen an
Hand unseres heutigen politischen Erlebens erschlossen werden. Wir ste-
hen noch am Beginn. Um das Lebendige geht es.
Der Vorwurf, der hier gegen die Literaturwissenschaft
und Ästhetik überhaupt erhoben wird, ist deutlich spürbar. Daß die Lite-
raturwissenschaft nicht einmal fähig sein soll, ernsthaften Bemühungen
wie denen Langenbuchers um die gegenwärtige Literatur das Handwerks-
!) „Volkhafte Dichtung der Zeit." 2. Aufl. 1938. S. 12 t
2) Aufsatz: „Die deutsche Dichtung in der Schule" im „Deutschen Volkstum",
Jahrg. 1935, H. 3.