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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 34.1940

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Mutius, Gerhard von: Vollendung
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https://doi.org/10.11588/diglit.14215#0049
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BEMERKUNGEN

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Von diesem leuchtenden Gipfel muß rückwirkend eine Rechtfertigung und Ver-
klärung auf die weitere Landschaft menschlichen Handelns und Leidens ausstrahlen,
die als unser aller Leben ringsum liegt. In jeder Tat, in jedem Leiden ist bereits
ein Ansatz zur „Vollendung", so ruft das Kreuz uns zu. Nichts ist umsonst. Alles
strebt auf einen letzten Sinn und Wert hin.

In der Regel hat die Darstellung des Kreuzestodes überwiegend die Erniedri-
gung, den Höllensturz in die abgründigen Tiefen des Leids geschildert und im Fort-
gang der Heilsgeschichte den Sieg und Triumph in die Auferstehung und die Him-
melfahrt verlegt. Es gibt aber auch Bildwerke, welche die „Vollendung" gerade darin
suchen, daß sie Erfüllung und Erlösung, das stärkste Handeln und das tiefste Leiden
in einen Augenblick zusammenrücken, wo sie sich wechselseitig zu durchdringen
scheinen. Hier wandelt sich das „Stirb" sogleich in ein neues „Werde", und aus
dem nächtlichen Dunkel des Leides entschleiert sich geheimnisvoll der funkelnde
Stern unsagbarer Freude.

Solcherlei Gedanken stiegen in mir auf bei wiederholter Zwiesprache mit einigen
mittelalterlichen italienischen Skulpturen, die in der Neuaufstellung des Kaiser-
Friedrich-Museums gewissermaßen neuentdeckt vor uns stehen. Mitten über den
beiden Eingingen in dem stark belichteten Hauptsaal, der Werke der Früh- und
Spätrenaissance vereinigt, hängt der große holzgeschnitzte und leicht getönte Cruci-
fixus, der nach Pisa in die Mitte des 14. Jahrhunderts verlegt und dem Andrea di
Ugolino Pisano (f 1348) zugeschrieben wird. Hier spürt man schon die Frühlings-
luft der Renaissance, die an einer Darstellung des großen Leidens kein Genüge
mehr findet, die auch in den Schmerzen die Schönheit sucht und in den Kreuzestod
selber den Triumph hineinlegt. Der Crucifixus ist jung und schön. Rötlichblond um-
rahmen Haar und Bart edle, fast griechische Züge, und die Gloriole schwebt nicht
nur als greifbares Symbol über seinem Haupt. Kein Gemarterter und Überwundener
hängt schwer dort am Kreuzesstamm. Ein Liebender schwebt mit ausgebreiteten
Armen einer seligen Umarmung entgegen. Wer unmittelbar unter dem Kreuze steht,
sieht den geöffneten Mund, die geschlossenen Augen, die vom Krämpfe des Lebens
entspannten Züge. Blut fließt von den durchbohrten Händen und aus der durch den
Speerstich geöffneten Seite. Tritt man aber etwas zurück, so verklärt eine schmerz-
liche Süße diesen Liebestod, und herbe Weltentrücktheit und Weltüberlegenheit
wandelt sich zu jenem fast spöttischen Zug, der das Antlitz Verstorbener manch-
mal zu umspielen scheint. „Ach noch atme ich ihn", schreibt Richard Wagner der
Geliebten, „den zauberischen Duft dieser Blumen, die Du mir von Deinem Herzen
brächest. Das waren nicht Keime des Lebens. So durften die Wunderblumen des
himmlischen Todes, des Lebens der Ewigkeit."

In einigen Reliefs unserer Sammlung klingen diese Motive dann wieder verein-
zelt und abgewandelt an. — Der tote Christus vom Ende des 16. Jahrhunderts mit
dem vornübersinkenden Haupthaar und dem erschlaffenden rechten Arm gibt jenes
„Lösen der Glieder", das Homer an seinen fallenden Helden beschreibt. Ein Relief
aus Padua aus der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts läßt zwei kleine Engel bitter den
Tod des Heilands miterleiden. Aber eine etwa in die gleiche Zeit verlegte Arbeit
in getöntem Stuck aus Florenz stellt neben den todmüde zusammensinkenden Leib
Christi eine Schar jubilierender Engel, deren Gesang den heraufziehenden Tag der
vollbrachten Erlösung begrüßt. — Auf einem venezianischen Altarvorsatz aus Mar-
mor (um 1500) wird dieser Preis zu einem rührenden und anmutigen Spiel. Die
Schrecken der Marter sind vorüber. Christus ist bereits dem Leiden entrückt und
erhöht. Engel umstehen in einem geschlossenen Raum Kreuz und Dornenkrone. Im
Hintergrunde sieht man die Leiter, die zum Kreuz hinaufreicht, den Speer, der die
 
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