Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 34.1940

DOI Artikel:
Kluge, Otto: Der Humanismus als ästhetische Idee
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14215#0111
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
DER HUMANISMUS ALS ÄSTHETISCHE IDEE

97

an alle Gegebenheiten und Schicksale des antiken Lebens, und beides
ergab die rhythmische Einheit des Renaissance-Zeitalters mit der Antike.

Renaissance und Humanismus, Italien und Deutschland lassen sich
hier nicht konsequent scheiden: der deutsche Humanismus, in der Haupt-
sache eine intellektuelle Bewegung, äußert sich vielfach in Formen, die
von einem kausalen Verhältnis künstlerischer Sachverhalte in Sprache
und Bildung zeugen; und die vorwiegend von künstlerischer Begeiste-
rung getragene und auf ästhetischen Genuß gerichtete italienische Renais-
sance kehrt, besonders in ihren späteren Vertretern (Laur. Valla, Politian,)
bewußt die Seite der Erkenntnis hervor, damit durch kritische Forschung
die Überlieferung gereinigt und die Wahrheit neben der Schönheit wieder-
hergestellt werde. In groben Zügen kann man sagen: der Humanismus
wendet sich in seinen Schöpfungen und mit seinen Forderungen an die
übersinnliche geistige Welt, die Renaissance an die Sinnenwelt. Und wie
im Piatonismus das Ästhetische eine Mittelstellung einnimmt zwischen
der übersinnlichen Welt und der Sinnenwelt und in beide hinüberreicht,
so haben Humanismus wie Renaissance teil am Ästhetizismus, können
einer ästhetischen Betrachtungsweise unterworfen werden.

I

Der ästhetische Eindruck des ausgehenden Mittelalters ist der eines
Schauspiels, in dem die Komödie der Kultur verspottet, das Zerwürfnis
des Philosophen mit der Welt als höchstes Heldentum gefeiert wird
(Seb. Franck, Hans Denck)"). Auch die humanistische Stimmung war
weltabgekehrt. Der 51jährige Erasmus schreibt 1517 an Capito:
„Ich bin nicht so sehr auf das Leben erpicht; doch möchte ich die neue
Zeit erleben, in der die schönen Wissenschaften wieder aufblühen wer-
den"3). Der Ausblick „in dieser Zeiten Grauen" auf die Untergangskata-
strophe der „greisenhaften, müden Welt" war den humanistischen Päd-
agogen nicht nur ein Antrieb für ihre Mahnungen zur Frömmigkeit, son-
dern auch eine Gelegenheit zu gegenwartsfeindlicher Gänsehaut. Es war
eine Hochkonjunktur des Pessimismus: die richtige Stimmung zur Er-
zeugung einer Wiedergeburtssehnsucht und ihrer historischen Frucht,
der Renaissance. Und in der Tat. Aus dem dumpfen Thema der Lebens-
furcht und Lebensverleugnung, aus dem sentimentalen Bedürfnis nach
einer schwarzen Aufmachung der Seele tönt der Ruf nach einer Verbesse-
rung der Welt, nach einem schöneren Leben. Diese Einstellung, das Ver-

2) Vgl. Seb. Brants Invectiva contra mundi delicias (Carmina 1498) und das
Somnium Murmellii (Ausg. Gedichte. Freibg. 1881). K. Jaspers, Psychologie der
Weltanschauungen3. Bln. 1925. S. 240 ff.

3) P. S. Allen, Opus epist. Des. Erasmi Roterod. Oxonii 1906 ff. No. 541. Eras-
mus, De contemtu mundi epistola. Dasselbe Thema dialogisiert schon Petrarca 1342.

Zeitschr. J. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft XXXIV.

7
 
Annotationen