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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 34.1940

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Thomae, Walter: Der Architekturraum als Erlebnisraum: (zu dem gleichnamigen Buche von Karl Heinz Esser, Bonn 1940)
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https://doi.org/10.11588/diglit.14215#0266
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BEMERKUNGEN

und läßt auf einen größeren Raum schließen. Alle diese Wahrnehmungen setzen
Stoff im Räume voraus; sogar der Weltenraum muß stofferfüllt sein,
sonst würden wir die Sterne nicht sehen. Wird der Innenraum durch Betasten an
der Wand gemessen, so ist dies scheinbar indirekt: die Maße werden von der
Wand auf den Raum übertragen. Aber auch das ist Täuschung: man fühlt, sieht
und hört die Grenzfläche beider Raumkörper, das ist die Fläche des Dichtewech-
sels zwischen zwei Dichtegraden, die eben nur graduell verschieden sind; an der
Grenzfläche fühlen wir die Widerstandsdifferenz zwischen beiden, nicht den Wider-
stand des „Körpers". Der Ausdruck Essers „vergleichsweise unstofflich" ist Ver-
legenheitsfassung und irreführend. Ebenso falsch ist die Behauptung Essers, der
Hohlraum sei als solcher unwahrnehmbar und deshalb nicht wirkungsfähig. Durch-
sichtig ist nicht unwahrnehmbar, Glas ist auch durchsichtig, aber tastbar, Luft ist
durch Luftperspektive sichtbar usw.

Raumwahrnehmung und Massenwahrnehmung unterscheiden sich also nicht,
weil Raum und Masse keine Gegensätze sind, sondern Arten des Raumkörpers,
Typen verschiedener und plötzlich wechselnder Stoffdichte. Man kann z. B. den
Raum in Schichten zerlegen, die allmählich dichter werden, das Auge dringt in
eine gewisse Tiefe hinein, auch der Tastsinn, aber wo hört der Raum auf und
wo beginnt der Körper? Oder man kann den sogenannten Raum zwischen vier
Steinwänden mit Luft füllen, mit Wasser, mit Sand, mit Schlamm, endlich mit flüs-
sigem Erz, das dichter ist als der Stein, aber noch Bewegung eines festen Kör-
pers zuläßt; sobald dieses erstarrt, kann man die Mauer abbrechen und der
„Raum" steht als „Körper" da; sagen wir lieber: er ist nie etwas anderes gewesen.

Und so sind auch die Kunstwissenschaftler berechtigt, den Raumkörper wie
einen Organismus, fast möchte ich sagen, wie ein Tier mit Gliedern und Fühlern
sich vorzustellen, der sich in die Masse der Architektur hineintastet, eindringt, sich
durchdringt, durchgeknetet wird. Esser nennt dies, dem Raum eine „Selbsttätigkeit"
zuschreiben und lehnt die Beschreibungsweise ab. Nach dem, was ich oben gesagt
habe, ist aber das Einschneiden von Raum und Masse gegenseitig oder rezi-
prok. Der Wandpfeiler schneidet in den Raumkörper ein, der Raumkörper als
Nische in die Wand, auch unabhängig vom Menschen, der sich im Räume bewegt.
Ohne ein persönliches Interesse am Bewegen im Räume, oder wie Esser es nennt,
den „Lebensraum", kann man dieses gegenseitige Verhältnis der beiden Faktoren
wahrnehmen, sich vorstellen und empfinden.

Betrachten wir nun die Formmöglichkeiten und damit die Wirkungsmöglich-
keiten der Raumkörper genauer, so finden wir als erstes eine Wirkung unabhängig
von den persönlichen „Lebensraumgefühlen" des Menschen, auf die Esser den allei-
nigen Wert legt. Die Grenzflächen bilden nämlich eine Raumkörperfigur mit maß-
haften Kanten oder Durchmessern, man kann sie als Querschnitte senkrecht und
waagrecht im Auszuge darstellen, wovon der Grundriß nur ein Einzelfall ist. Im
einfachsten Falle ist die Figur ein Würfel, kann aber auch ein langgestrecktes
Prisma sein, mit den Seitenverhältnissen a:b:c, oder eine ovale Figur, oder Halb-
kugel auf Zylinder, wie das Pantheon innen und außen. Weiterhin kann der Raum-
körper stark gegliedert sein, als Körper kann er Anbauten haben, z. B. Außen-
absiden, als Raum kann er Nischen haben, z. B. Innenabsiden. Je komplizierter die
Raumkörperfigur wird, desto mehr entzieht sie sich der Messung. Ihre Verhält-
nisse bleiben maßhaft, aber nicht meßbar; die Proportionen verstecken sich, und
ihre Wirkung kommt nicht zum Bewußtsein. Diese ästhetische Wirkung ist dieselbe,
gleichviel, ob es sich um eine Hohlfigur handelt oder um einen „Körper". Der
Würfel hat etwas Einfaches, Beruhigendes, Geschlossenes, der Kreiszylinder auch
noch, aber der ovale Zylinder, der in Barockbauten die Hauptform der Kuppel-
 
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