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Zeitschrift für christliche Kunst — 11.1898

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Prill, Joseph: In welchem Stile sollen wir unsre Kirchen bauen?, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3834#0157

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249

1898. — ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 8.

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sehen Stiles über den romanischen eröffnen.
Wir haben nichts gegen die Gothik, bekennen
uns vielmehr zum Voraus als warme Freunde
derselben und gestehen, dafs ihr einst die
Liebe unseres jugendlichen Herzens fast bis
zum Fanatismus ausschliefslich galt". Und dann
sagt er in treffender Kennzeichnung vom gothi-
schen Stil: „Auch wir sehen darin einen epoche-
machenden Fortschritt und eine höhere Stufe
der Entwickelung, wenn gegenüber dem roma-
nischen Massen- und Mauerbau mit seiner im
ganzen ruhigen Lagerung und seiner massigen
Schwere nun auf einmal in der Gothik ein
Strebebau ersteht, welcher die aufwärts zielende
Tendenz der Vertikale geradezu zum Prinzip
erhebt und sie mit solcher Konsequenz zum
siegreichen Durchbruch bringt, dafs nicht mehr
blofs einzelne Theile, sondern der ganze Körper
des Baues von ihr erfafst und in eine rastlos
aufstrebende Bewegung versetzt wird, die erst
in den Spitzen der Gewölbebogen zur Ruhe
kommt. Auch wir begrüfsen darin einen hohen
Triumph über den lastenden Druck der Materie,
eine Vergeistigung des Stofflichen, eine Umbil-
dung des Steinbaues in einen lebendigen, beseel-
ten Organismus, und bewundern mit Göthe „die
grofsen harmonischen Massen, zu unzähligen
kleinen Theilchen belebt, wie in den Werken
der ewigen Natur", bewundern, wie „hier alles
Gestalt ist bis auf das geringste Zäserchen und
alles zum Ganzen zweckt". Die viel freiere Be-
wegung in der Grundrifs- und Aufrifsbildung,
die fast unbegrenzte Variirbarkeit des gothischen
Schemas, welche durch die Spitzbogenwölbung
und die Durchbrechung der engen, durch Kreis
und Quadrat gezogenen Grenzen ermöglicht
wurde, die harmonische Ineinsbildung vonlnnen-
und Aufsenbau, die freiere, luftigere leichtere
Gestaltung aller Glieder und Verhältnisse, die
Helligkeit, Weite, Höhe, Durchsichtigkeit der
Innenräume — wer würde all das nicht als Vorzug,
als willkommene Errungenschaft anerkennen?"
Nachdem er dann noch eine Reihe von
Vorzügen der Gothik besprochen, wobei er mit
Recht einige überschwängliche Anschauungen
zurückweist, schliefst er: „Das Vorstehende sollte
uns über den Verdacht erheben, als wollten wir
der Gothik auch nur einen Theil ihres ver-
dienten Ruhmes streitig machen oder als wären
wir für ihre Vollkommenheit blind. Aber mit
deren Anerkennung scheint uns allerdings die
Frage noch durchaus nicht abgethan, ob es

nicht erlaubt und wünschenswerth sei, neben
dem gothischen auch den romanischen Stil zu
kultiviren." (S. 74.)

Nicht also gegen die Gothik, nicht gegen
ihren Vorrang, sondern gegen ihre Allein-
berechtigung, wie sie die exklusiven Gothiker
wollen, ist der Angriff gerichtet. „Unleugbar
und eingestandermafsen", so fasst der Verfasser
deren Beweisführung zusammen, „steht der
gothische Stil der kunsthistorischen Entwicke-
lung, der technischen Vollendung und dem
symbolischen Gehalt nach höher, als der roma-
nische, er ist der vollkommene kirchliche Bau-
stil; folglich fällt jeder Grund und jedes Recht
weg, neben ihm einen zweiten, weniger voll-
kommenen beizuziehen."

Prüfen wir nun zunächst die Gründe, mit
denen er diese Forderung abweist, um dann,
wenn nöthig, die Frage noch einmal in ihrer
Ganzheit ins Auge zu fassen.

Zuerst macht unser verehrter Gegner einen
Hauptangriff auf die ganze Beweisführung der
Gothiker, indem er nicht sowohl gegen die
einzelnen Beweisgründe Bedenken erhebt, son-
dern die ganze Schlufsfolgerung als unrichtig
abweist. „Die Argumentation: Der gothische
Stil ist der vollkommene, ergo auch der allein
berechtigte, welche wir oben durch Reichens-
perger und Prill vertreten fanden, scheint sieg-
reich und unwidersprechlich. Sie erinnert aber
an eine andere analoge, von gleicher Folge-
richtigkeit und von gleicher — Unrichtigkeit.
— Der Heiland selbst hat uns das Vaterunser
gelehrt, das christliche Gebet. Da *varen es
die Bogomilen im XII. und die Puritaner im
XVI. Jahrh., welche so folgerten: Hat Christus
selbst uns ein Gebet gelehrt, so ist dies das
vollkommene Gebet; ist das Vaterunser das voll-
kommene Gebet, so ist es auch das allein be-
rechtigte und erlaubte, denn es wäre vermessen,
widersinnig und „unlogisch", wollte man sich
unvollkommener Gebete bedienen, während uns
doch ein vollkommenes gegeben ist; es wäre
Wahnsinn, zu meinen, man könne selber bessere
und Gott wohlgefälligere Gebete ersinnen, als
das, welches Gottes Sohn uns gelehrt hat. Die
Beweisführung läuft der obigen parallel, ja sie
scheint noch unanfechtbarer, als sie, weil auf
das Vaterunser das Prädikat vollkommen wirk-
lich im absoluten Sinne anwendbar ist, auf die
Gothik, wie auf alle Menschenwerke, blofs im
relativen. Im Vaterunser hat uns in der That
 
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