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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 27.1915/​1916

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Über die Ausbildung des Kunstgewerblers
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https://doi.org/10.11588/diglit.4828#0074

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ÜBER DIE AUSBILDUNG DES KUNSTGEWERBLERS

VON DR.-ING. ALBRECHT, ZEHLENDORF

(Hierzu die Abbildungen auf S. 77)

IN den letzten Jahren hat die Überzeugung allge-
meine Geltung erlangt, daß künstlerische Fähigkeit
allein zum Entwerfen kunstgewerblicher Gegen-
stände nicht ausreicht. Der Kunstgewerbler, gleichviel
ob er Möbel, Beleuchtungskörper, Tafelgeräte oder
Schmuckstücke entwirft, ebenso der Musterzeichner,
müssen bekannt sein mit den Eigenschaften und der
Behandlung der von ihnen vorgesehenen Materialien,
um in jeder Hinsicht vollendete Arbeiten zu erzeugen.
In Würdigung der Wichtigkeit derartiger praktischer
Kenntnisse hat bekanntlich der Deutsche Werkbund
bereits Bücher über gewerbliche Materialkunde er-
scheinen lassen, in denen die Hölzer, die Schmuck-
und Edelsteine, sowie die Metalle behandelt sind.
Auch sind mit Recht auf den Kunstgewerbeschulen
Werkstätten eingerichtet worden, in denen die Schüler
durch eigene Handarbeit in der Anfertigung kunst-
gewerblicher Gegenstände ausgebildet werden. Es wird
z. T. sogar eine mehrjährige praktische Lehrtätigkeit in
einem gewerblichen Betriebe für die Aufnahme in die
Kunstgewerbeschule zur Vorbedingung gemacht. Wenn
auch anerkannt werden muß, daß das moderne Kunst-
gewerbe durch reine Künstler, Maler, Bildhauer und
Architekten erst wieder belebt und befruchtet worden
ist, die von Hause aus eine handwerkliche Ausbildung
nicht besaßen, so wird im allgemeinen nur derjenige
als ein guter Kunstgewerbler angesehen, der künst-
lerische Begabung mit solider handwerklicher Aus-
bildung in sich vereinigt. Manche Kunstgewerbler
führen sogar ihre Entwürfe selbst praktisch aus, was
natürlich eine vollständige Beherrschung des von
ihnen ausgeübten Handwerks zur Voraussetzung hat.
Sie folgen damit den Gepflogenheiten früherer Zeiten,
in denen ein Unterschied zwischen ausübenden Künst-
lern und Handwerkern in den Gewerben überhaupt
nicht gemacht wurde, vielmehr die Erzeugnisse des
Kunstgewerbes allein aus den Werkstätten der Tischler,
Schmiede und sonstigen Handwerker hervorgingen.
Der Kunstgewerbler muß also wie der Ingenieur
zum Entwerfen der sein Fachgebiet betreffenden Er-
zeugnisse in der Werkstattpraxis erfahren sein. Frei-
lich braucht der Ingenieur, der nur Maschinen zu
entwerfen hat, besonderes künstlerisches Talent nicht
zu besitzen, er baut diese vielmehr lediglich nach dem
Gesichtspunkte der Zweckmäßigkeit, und die Zeiten,
in denen der Ingenieur seine Erzeugnisse durch Orna-
mente glaubte verzieren zu müssen, sind längst vor-
über. Aber gerade dadurch, daß seine Maschinen
und Geräte allein zweckentsprechend gebaut sind,
wirken sie in ihrer Weise harmonisch und schön.
Erinnert sei beispielsweise nur an den Gegensatz
zwischen den alten Kraftfahrzeugen und den modernen
Wagen, die höchste Zweckmäßigkeit und Form-
vollendung miteinander vereinen. Die Anforderungen,

denen eine Maschine zu genügen hat, sind jedoch
sehr mannigfach. Es muß bei ihrer Konstruktion
Rücksicht genommen werden auf hinreichendeTestig-
keit aller Teile, auf das noch zulässige Maß der Form-
veränderungen, die von den auftretenden Kräften aus-
geübt werden, ferner auf die Herstellung, sowie auf
die Anforderungen des Betriebes. Wir sehen also,
daß es gar nicht so leicht ist, wirkliche Zweck-
formen zu schaffen, und daß hierzu nicht nur theore-
tische Kenntnisse, sondern auch reiche praktische Er-
fahrungen notwendig sind. Der erfahrene Ingenieur
besitzt aber ein so hoch entwickeltes Formgefühl, daß
Maschinenteile, die nicht den sämtlichen verschiedenen
Anforderungen entsprechen, einen unschönen Eindruck
auf ihn machen. Er berechnet seine Maschinen zu-
nächst auch nicht in allen ihren Teilen, sondern nur
in ihren wichtigsten Umrissen und entwirft gleich die
Formen nach seinem Empfinden und Gefühl; dann
erst wird nachgerechnet, ob die Abmessungen richtig
gewählt sind und etwa hiernach erforderliche Ab-
weichungen werden vorgenommen. Eine genaue Be-
rechnung der ganzen Maschine vor Herstellung der
Entwurfszeichnung ist ja auch nicht möglich, weil die
verschiedenen zu errechnenden Größen voneinander
abhängig sind. Wir sehen also, daß der Ingenieur
beim Konstruieren der Maschinen sich von seinem
Formgefühl leiten läßt, das er sich durch sein Studium
und seine Erfahrungen angeeignet hat.

Die Erzeugnisse des Kunstgewerblers haben nun
ebenso wie die Entwürfe des Ingenieurs praktische
Bedürfnisse zu befriedigen. Aus diesem Grunde wird,
wie wir gesehen haben, mit Recht von dem Kunst-
gewerbler verlangt, daß er nicht nur künstlerisch,
sondern auch handwerklich ausgebildet wird. Die
Aneignung theoretischer Kenntnisse wurde aber nicht
für erforderlich gehalten. Gewiß sind die Erzeugnisse
des Kunstgewerbes nicht wie diejenigen des Ingenieurs
größeren Kraftwirkungen ausgesetzt. Sie bleiben auch
im Gegensatz zu den Maschinen meist im Ruhe-
zustande, so daß Formveränderungen nicht vorkommen
und Betriebsrücksichten naturgemäß nicht zu nehmen
sind. Es möge jedoch hernach an einigen Beispielen
gezeigt werden, daß auch für den Kunstgewerbler
eine Kenntnis der wichtigsten Gesetze der technischen
Mechanik von Nutzen sein kann.

Denjenigen unter den Lesern, welchen nicht be-
kannt ist, was technische Mechanik bedeutet, sei er-
klärt, daß hierunter die Lehre von der Bewegung
und dem Gleichgewicht der Körper in der Natur
verstanden wird. Hierbei werden zwei besondere
Gruppen unterschieden, nämlich die Dynamik, d. i. die
Lehre von den Kräften, soweit sie Bewegung hervor-
rufen, und die Statik, d. i. die Lehre von den Kräften,
soweit sie sich im Gleichgewicht befinden. Hiernach

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