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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 6.1911

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Mayer, Adolf: Naturwissenschaftliche Ästhetik
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https://doi.org/10.11588/diglit.3675#0625
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Bemerkungen.

Naturwissenschaftliche Ästhetik.

Von

Adolf Mayer.

Die gewählte Überschrift bezeichnet die Sache, die ich vor Augen habe, nur
unvollständig. Namen sind Etiketten, aber selten erschöpfende Definitionen. Natür-
lich gibt es keine rein naturwissenschaftliche Ästhetik, da eben seelische Eigenschaften
für die Probleme der schönen Künste in Betracht kommen, und jene sich natur-
wissenschaftlich nicht behandeln lassen oder, wenn wir in dem Optimismus jugend-
licher Diziplinen reden, bisher nicht behandeln ließen. Worauf ich unter der ge-
wählten Marke die Aufmerksamkeit lenken möchte, ist vielmehr folgendes:

Dem naturwissenschaftlich geschulten Denken sind viele Dinge zugänglich, die
dem Vertreter der Geisteswissenschaften, oder gebrauchen wir lieber die neuere
Bezeichnungsweise: Kulturwissenschaften, weniger zur Hand liegen, wie natürlich
auch umgekehrt; und darunter sind auch manche, die für die Fundierung einer
Wissenschaft vom Schönen gar sehr in Betracht kommen. Daß eine so einfache
Tatsache in ihren ziemlich bedeutsamen Folgen nicht allgemein bekannt ist, liegt
unzweifelhaft daran, daß heutzutage eine jede Wissenschaft ihren ganzen Mann ver-
langt. Wie wenige sind es, die es wagen dürfen oder wagen, weit entlegene
Wissensgebiete zu beschreiten. Es erwarten sie in dem Neulande, mit dessen
Lokalkenntnis und mit der Achtung von dessen dialektischen Sitten und Gebräuchen
es bei ihnen notwendig übel bestellt ist, feindliche Überfälle und Verunglimpfungen.
Bald stellt sich meist unüberwindliche Wegemiidigkeit ein, und man kehrt um auf
die große Heerstraße, wo man es so viel bequemer hat.

Denn nicht bloß der Gegenstand ist für jene beiden großen Forschungsgebiete
verschieden. Hier der Makrokosmos, dort der Mikrokosmos, den es zu ergründen
gilt. Die äußere Natur, unserem inneren Sinne fremd (auch, so weit beide
Gebiete in der physiologischen Psychologie sich zu berühren scheinen, doch nur
die Kehrseite der Medaille, von der die eine mit dem Ausdruck objektiv, die
andere mit subjektiv gestempelt wird), will mit vollständiger Verleugnung unseres
subjektiven Verhaltens studiert sein. Daher sind für dieses Studium geduldige
Wahrnehmung, Selbstentäußerung, kühles Urteil notwendig. Anlage und
Schulung in diesen teilweise mehr negativen als positiven Dingen macht den Natur-
forscher. Die Geschicklichkeit dabei ist nur, das Objektive zu einer deutlichen Ant-
wort zu zwingen. Doch was redet, ist immer dieses Objekt. Der Forscher lauscht
nur und übersetzt getreulich und ohne Zutat das, was ihm vom Objekt diktiert
wird, aus der chemischen oder physikalischen Sprache in die gemeinverständliche
des täglichen Lebens.

Ganz anders in den Kulturwissenschaften. Hier beruht alles, insoweit nicht
eigene Ideen hinzutreten und die Angelegenheit modifizieren, auf dem Zeugnis des
Menschengeistes, das wohl hier und da direkt wahrgenommen — aber doch zum
weitaus größeren Teile in der Form des geschriebenen Worts überliefert wird, und
insoweit auf der Kenntnis des Buches. Und weder Philologie noch Geschichte,
 
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