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Winghart, Stefan; Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege [Editor]; Institut für Denkmalpflege [Editor]
Arbeitshefte zur Denkmalpflege in Niedersachsen: Die Reichserntedankfeste auf dem Bückeberg bei Hameln: Diskussion über eine zentrale Stätte nationalsozialistischer Selbstinszenierung — Hameln: Niemeyer, Heft 36.2010

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Marszolek, Inge: Der Bückeberg - ein heterotoper Erinnerungsort
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https://doi.org/10.11588/diglit.51156#0070
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Der Bückeberg - ein heterotoper Erinnerungsort

Inge Marszolek

„Wenn er an dir vorbeigeht, ist es, als wenn Jesus
einen anguckt", so das Zitat einer Bäuerin über die
Begegnung mit Adolf Hitler auf dem Bückeberg.1
Es sind diese und andere Erinnerungen, die an dem
damals wie heute idyllischen Ort der NS-Reichsernte-
danktage angelagert sind.2 Am Ort selber sind sie
weder erfahr- noch lesbar. Allenfalls Spuren der gi-
gantischen Umgestaltungen von Albert Speer, der bei-
den Tribünen und des „Führerwegs", sind noch vor-
handen. Die Elemente des Massenfestes, die quasi
religiösen Rituale zur Feier des Führers, die Reiterspie-
le, die durch Vorführungen der Wehrmacht abgelöst
wurden, sind ebenso unsichtbar wie die Erinnerung
an die 500.000 Menschen, 1937 sogar über eine
Million, die aus dem Reich mit Zügen anreisten, in den
umliegenden Orten verpflegt und versorgt wurden.
Von ähnlichen Orten wissen wir, dass die Geschichten
dennoch zumindest im kommunikativen Gedächtnis
der Familien wie der umliegenden Dorfgemeinschaften
tradiert wurden. Im intergenerationellen Prozess des
Erzählens verknüpfen sie sich mit den Bildern des Na-
tionalsozialismus und zwar auf doppelte Weise: Sie
werden verbunden mit den von den Nationalsozialis-
ten selber produzierten Bildern, die, wie etwa die In-
szenierungen der Reichsparteitage in Nürnberg, zu
Ikonen geronnen sind und zu heutigen medial produ-
zierten Bildern, etwa aus Fernsehproduktionen oder
Filmen. Die Idylle des Ortes ist durch eben diese Bilder
kontaminiert. Wie also umgehen mit diesem Ort der
NS-Volksgemeinschaft? Bislang gibt es keine Doku-
mentation am Ort selber, die Spuren der Eingriffe in
die Landschaft sind zwar sichtbar, werden aber nicht
erklärt. Die Menschen, die in unmittelbarer Nachbar-
schaft des Bückebergs leben, inklusive der politischen
Vertreter in den Gemeinden, scheinen mehrheitlich
der Meinung zu sein, es wäre besser, alles so zu belas-
sen, wie es ist. Mit dieser Position verbindet man die
Hoffnung, dass mit der Zeit auch die Erinnerungen
verschwinden, die Bilder des Nationalsozialismus ver-
blassen und die Spuren des Eingriffs in die Landschaft
durch die Nationalsozialisten weiter überwuchern.
Damit einher gehen Planungen, das Gelände als Neu-
baugelände auszuweisen und eventuell mit Einfami-
lienhäusern zu bebauen. Durch diese Nutzungen wür-
den alle noch bestehenden Verweise auf die beson-
dere Geschichte des Geländes beseitigt. Bestünde
nicht zudem die Gefahr, so ein anderes Argument,
dass dieser Ort für die Neonazi-Szene zur Attraktion
würde, wenn man dessen NS-Geschichte kenntlich
machen würde?

Der Bückeberg auf der Landkarte der
„Disturbing Remains"3
Die Orte der Verbrechen „unsichtbar" zu machen, das
war ein dominanter und gesellschaftlich akzeptierter
Umgang mit den ehemaligen KZ-Lagern in der BRD
bis in die 60er Jahre. In Flossenbürg beispielsweise
wurden Vertriebene und Flüchtlinge aus den verlore-
nen Ostgebieten auf dem Gelände des ehemaligen KZ
angesiedelt, Bergen-Belsen wurde zu einer Parkland-
schaft umgeformt, die Baracken und andere Spuren
des Lagers vernichtet beziehungsweise überpflanzt.
Die erste bedeutende Ausstellung wurde 1965 auf
dem Gebiet des ehemaligen Konzentrationslagers in
Dachau errichtet! Bis in die 80er Jahre hinein war es
eine Frage der politischen Durchsetzbarkeit und in der
Regel mit heftigen Auseinandersetzungen verbunden,
ob und wie der NS-Verbrechen zu gedenken sei.
Mittlerweile gehören die NS-Gedenkstätten an den
Orten der ehemaligen Lager, so Volkhard Knigge, zur
„Grundausstattung" der Gedenkkultur der Republik.4
Trotzdem oder gerade deswegen stellt sich die Frage,
warum nunmehr auch Orte, an denen die NS-Volks-
gemeinschaft sich selber zelebrierte, zu „Denkmalen"
bzw. Denkorten werden sollen. Jan-Philipp Reemts-
ma, der sich äußerst skeptisch hinsichtlich eines Ler-
nens aus der NS-Geschichte im Sinne eines morali-
schen Läuterungsprozesses äußert, beharrt hingegen
auf der Notwendigkeit, sich der Gefährdung bewusst
zu sein, dass Zivilisationsprozesse auch umkehrbar
sind.5 Reemstma bezieht sich in seinen Überlegungen
implizit auf die bestehenden Gedenkstätten, die an
den Orten der Lager errichtet wurden und nicht auf
die Orte, an denen das NS-Regime sich selber darstell-
te. Aber diese Schauplätze der nationalsozialistischen
Verfolgung und Verbrechen verweisen auch auf eine
„Vor- oder Parallelgeschichte": Die Perspektive auf die
Formierung der NS-Volksgemeinschaft stellt die Frage
nach der Partizipation der Mehrheit der Deutschen,
deren Verhalten zwischen Täterschaft und Wegsehen
changierte. Die Orte der Vergemeinschaftung und
„Normalität" der nationalsozialistischen Gesellschaft
stehen in enger Verbindung zu den Orten der Ver-
brechen und des Leidens. Diese „bösen Orte", so der
populistische Titel eines Buchs6 - gemeint sind eben
diese Orte der Selbstdarstellung des Regimes - bilden
ein dichtes Netz auf der Topografie des Nationalsozia-
lismus. Anders als die Gedenkstätten und Mahnmale,
an denen an das „negative Erbe" der NS-Diktatur
erinnert wird, sind - mit wenigen Ausnahmen wie auf
dem Reichsparteitagsgelände in Nürnberg, der We-
 
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