Allgemeine Kunst-Chronik.
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tiefes Weh", ebenso ist das Geibel'sche Gedicht „Nun die
Schatten dunkeln" trotz aller Einfachheit in der Ton-
anwendung so feierlich und innerlich, dass nur eine be-
gnadete Seele und Kehle diese Musil< wiedergeben kann,
die uns an die Keuschheit von Schubert's „Du bist die
Ruh" gemahnt. Mit dem weihevollen Gesang „Aller-
heiligen" schließt in symbolischer Lebensbeziehung das
Album und verklingt ein ernstes Seelengemälde. Die
Klavierbegleitung ist meisterhaft und erfordert Gewandt-
heit und Anschmiegung. Wer eine oberflächliche, triviale
Musik liebt, bleibe von diesem Album weg; wer bereits
in der Gesangkunst vorgeschritten ist und Gold von Talmi
unterscheiden kann, greife zu: er wird, wenn ihm auch
nicht alles zusagt, doch wahre Perlen darin finden.
Rudolf Schaefer.
Musikliteratur,
Die Geschichte der Musik, zusammengestellt und
dargestellt in synchronistischen Tabellen unter Berück-
sichtigung der allgemeinen Welt- und Kulturgeschichte
von E. E. H. Böhme (Leipzig, Verlag von Breitkopf &
Härtel). Das für Musiker und Musikfreunde sowie zum
Gebrauche in Musikschulen berechnete Buch beginnt mit
der Musik der Chinesen, Japanesen, Äthiopier (!) und
dann der bekannteren asiatischen Hauptvölker. Im Mittel-
alter sind auch die muhammedanischen Völker, insbesondere
die Araber berücksichtigt. Darauf treten wir der eigent-
lichen Kunstmusik näher, und von hier an begegnen wir
einer Reihe von groben Irrthümern. Die Dechanteurs in
Notredame, Leonin und Perotin werden in Nachäffung
Naumann's als Erfinder des Kontrapunkts ausgegeben.
Ebenso wird auch die lächerliche und dabei grundfalsche
Eintheilung der in den Niederlanden erblühten Schule in
eine gallobelgische und niederländische Schule ihm nach-
geschrieben, deren Vertreter mit wenigen Ausnahmen eben
auch durchwegs — Gallobelgen waren. Stutzig macht es, Eloy,
von dem der Verfasser gewiss das Allerwenigste weiß, als
Bannerträger der, um den phrasenhaft schwulstigen Aus-
druck zu wiederholen, gallobelgischen Schule zu erblicken.
Wem da wol der geehrte Autor aufgesessen ist? Noch
dazu erscheint der Name dieses wenig gekannten Künstlers
fettgedruckt, während der im ersten Drittel des XV. Jahr-
hunderts berühmteste niederländische Komponist Binchois
sich mit kleinen Lettern bescheiden muss. Bekanntlich
starb dieser angesehene Tonmeister 1460, was Herr Böhme
nicht zu wissen scheint, denn er notirt in voller Gemüths-
ruhe 1452 als Todesjahr. John of Dunstable ist so schlecht
postirt, dass er auf den ersten Blick im Nachtrab Dufay's,
dessen Vorbild er gewesen, erscheint. Monteverdi wird der
fabelhaften toskanischen Schule zugewiesen, die nur ein
leeres Hirngespinst ist. ' Das Nonplusultra an haar-
sträubendem Unsinn aber wird dadurch geleistet, dass
Francesco Cavalli als Höhepunkt der toskanischen Schule
angeführt wird. Die weitere kühne Behauptung, dass nach
ihm die toskanische Schule in die neapolitanische und
neuvenezianische überging, setzt vollends dem Unsinn die
Krone auf. Von Rameau's „Hippolyte et Aricie" findet
sich als Aufführungsdatum 1732 angegeben, während dieses
epochale Werk erst 1. Oktober 1733 in die Welt trat.
Weiters lesen wir die köstliche Bemerkung, dass 1778 bis
1781 Piccini und Sacchini in Paris gegen Gluck auftraten.
Sacchini ist thatsächlich erst im Juli 1781 nach der Seine-
stadt gekommen, seine erste französische Oper „Renaud"
ward erst am 25. Februar 1783 in der Academie royale
aufgeführt. Man kann daraus ersehen, was von dieser
aberwitzigen Behauptung zu halten ist. Zu Ende des
vorigen Jahrhunderts wird neben Cherubini's Medea Phi-
lidor erwähnt. Würde der Verfasser auch nur eine Ahnung
davon haben, was Geschichte ist, so hätte er ihn zwischen
1759 und 1765 neben Monsigny, der um dieselbe Zeit
debutirte, in der Geschichte der komischen Oper unter-
bringen müssen. Letzterer findet sich gar neben Rossini,
Spontini und Beethoven angeführt, was einem Faustschlag
wider die gesunde Vernunft gleichkommt. Doch halt! der
Mann verdient eine Medaille, er hat die Welt um eine
neue Entdeckung bereichert. „Joseph in Ägypten" er-
scheint neben der „Vestalin" als „große" Oper —- ein
großer Schnitzer, das kann mir als Mehul-Forscher, der
sämmtliche Manuskripte dieses großen Tondichters in
Händen gehabt, Herr Böhme aufs Wort glauben. Im
Weiteren werden Infusorien vom Schlage Gaveaux' und
Jadin's genannt, während einer der markantesten und ge-
wichtigsten Künstler dieser Epoche, Sueur,. fehlt. Natür-
lich, wenn man keine gründliche Literaturkenntnis besitzt
und sein bisschen Wissen bloß aus etlichen minderwertigen
Handbüchern und allenfalls aus der — Vierteljahrsschrift,
dieser schwächlichen und geistlosen Nachfolgerin der
seinerzeit von Chrysander so verdienstvoll redigirten „All-
gemeinen musikalischen Zeitung", schöpft, so können die
Resultate allerdings keine anderen sein. Dass von Mehul's
wichtigen Revolutionsopern keine einzige angeführt ist,
versteht sich nacli dem Angeführten von selbst.
Ferdinand Paer wird als Komponist „im seich-
testen Zopfstil" bezeichnet. Würde Herr Böhme „II Sar-
gino" oder „I Fuorusciti" des von ihm so hart be-
urtheilten Tonsetzers kennen, er wäre weiser geworden
und hätte das Schweigen als besseren Theil erwählt. Die
Postknechtsoper „Der Postillon von Longjumeau" wird
mit drolliger Gewissenhaftigkeit verzeichnet, während bei-
spielsweise „Dido", „Oedipus", „Die Danaiden", „Die
Räuberhöhle", „Paul und Virginie", „Telemach", „Ossian",
„Euphrosine", „Phrosine", „Ariodant", „Kamilla", „Romeo
und Julie", „Semiramis", „Wallace" u. a. m. gänzlich un-
berücksichtigt blieben. Doch seien wir nicht undankbar.
Herr Böhme weiß zu amüsiren, er hat immer neue Über-
raschungen zu bieten. So konstruirt er zu allgemeiner Ver-
blüffung eine „Berliner Opernschule", die gar nicht existirt
hat, und als deren Vertreter Lortzing mit „Zar und
Zimmermann" ausgegeben wird, der bekanntlich in Leipzig
zur ersten Aufführung gelangte. Flotow's „Stradella"
und „Martha" werden als der Meyerbeer'schen Richtung
angehörig verzeichnet, ein Einfall, über den jeder musi-
kalische Schulknabe auflachen muss, und mit gleicher
Konsequenz der Berliner (!) Opernschule, die als Phantom
in des Verfassers Kopfe spukt, zugetheilt („Stradella"
aufgeführt 1844 zu Hamburg, „Martha" 1847 in Wien).
Grundfalsch ist die Methode, die Komponisten bei ihrem
Todesjahre anzuführen. Für die Geschichte ist nur das
thatkräftige Eingreifen in die Kulturbewegung ent-
scheidend, nicht das zufällige Abreißen des Lebensfadens
irgend eines hervorragenden Individuums. Recht schlagende
Beispiele dafür bieten z. B. Rossini, der für die Opern-
geschichte noch vor 1830 gestorben ist, desgleichen Mon-
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tiefes Weh", ebenso ist das Geibel'sche Gedicht „Nun die
Schatten dunkeln" trotz aller Einfachheit in der Ton-
anwendung so feierlich und innerlich, dass nur eine be-
gnadete Seele und Kehle diese Musil< wiedergeben kann,
die uns an die Keuschheit von Schubert's „Du bist die
Ruh" gemahnt. Mit dem weihevollen Gesang „Aller-
heiligen" schließt in symbolischer Lebensbeziehung das
Album und verklingt ein ernstes Seelengemälde. Die
Klavierbegleitung ist meisterhaft und erfordert Gewandt-
heit und Anschmiegung. Wer eine oberflächliche, triviale
Musik liebt, bleibe von diesem Album weg; wer bereits
in der Gesangkunst vorgeschritten ist und Gold von Talmi
unterscheiden kann, greife zu: er wird, wenn ihm auch
nicht alles zusagt, doch wahre Perlen darin finden.
Rudolf Schaefer.
Musikliteratur,
Die Geschichte der Musik, zusammengestellt und
dargestellt in synchronistischen Tabellen unter Berück-
sichtigung der allgemeinen Welt- und Kulturgeschichte
von E. E. H. Böhme (Leipzig, Verlag von Breitkopf &
Härtel). Das für Musiker und Musikfreunde sowie zum
Gebrauche in Musikschulen berechnete Buch beginnt mit
der Musik der Chinesen, Japanesen, Äthiopier (!) und
dann der bekannteren asiatischen Hauptvölker. Im Mittel-
alter sind auch die muhammedanischen Völker, insbesondere
die Araber berücksichtigt. Darauf treten wir der eigent-
lichen Kunstmusik näher, und von hier an begegnen wir
einer Reihe von groben Irrthümern. Die Dechanteurs in
Notredame, Leonin und Perotin werden in Nachäffung
Naumann's als Erfinder des Kontrapunkts ausgegeben.
Ebenso wird auch die lächerliche und dabei grundfalsche
Eintheilung der in den Niederlanden erblühten Schule in
eine gallobelgische und niederländische Schule ihm nach-
geschrieben, deren Vertreter mit wenigen Ausnahmen eben
auch durchwegs — Gallobelgen waren. Stutzig macht es, Eloy,
von dem der Verfasser gewiss das Allerwenigste weiß, als
Bannerträger der, um den phrasenhaft schwulstigen Aus-
druck zu wiederholen, gallobelgischen Schule zu erblicken.
Wem da wol der geehrte Autor aufgesessen ist? Noch
dazu erscheint der Name dieses wenig gekannten Künstlers
fettgedruckt, während der im ersten Drittel des XV. Jahr-
hunderts berühmteste niederländische Komponist Binchois
sich mit kleinen Lettern bescheiden muss. Bekanntlich
starb dieser angesehene Tonmeister 1460, was Herr Böhme
nicht zu wissen scheint, denn er notirt in voller Gemüths-
ruhe 1452 als Todesjahr. John of Dunstable ist so schlecht
postirt, dass er auf den ersten Blick im Nachtrab Dufay's,
dessen Vorbild er gewesen, erscheint. Monteverdi wird der
fabelhaften toskanischen Schule zugewiesen, die nur ein
leeres Hirngespinst ist. ' Das Nonplusultra an haar-
sträubendem Unsinn aber wird dadurch geleistet, dass
Francesco Cavalli als Höhepunkt der toskanischen Schule
angeführt wird. Die weitere kühne Behauptung, dass nach
ihm die toskanische Schule in die neapolitanische und
neuvenezianische überging, setzt vollends dem Unsinn die
Krone auf. Von Rameau's „Hippolyte et Aricie" findet
sich als Aufführungsdatum 1732 angegeben, während dieses
epochale Werk erst 1. Oktober 1733 in die Welt trat.
Weiters lesen wir die köstliche Bemerkung, dass 1778 bis
1781 Piccini und Sacchini in Paris gegen Gluck auftraten.
Sacchini ist thatsächlich erst im Juli 1781 nach der Seine-
stadt gekommen, seine erste französische Oper „Renaud"
ward erst am 25. Februar 1783 in der Academie royale
aufgeführt. Man kann daraus ersehen, was von dieser
aberwitzigen Behauptung zu halten ist. Zu Ende des
vorigen Jahrhunderts wird neben Cherubini's Medea Phi-
lidor erwähnt. Würde der Verfasser auch nur eine Ahnung
davon haben, was Geschichte ist, so hätte er ihn zwischen
1759 und 1765 neben Monsigny, der um dieselbe Zeit
debutirte, in der Geschichte der komischen Oper unter-
bringen müssen. Letzterer findet sich gar neben Rossini,
Spontini und Beethoven angeführt, was einem Faustschlag
wider die gesunde Vernunft gleichkommt. Doch halt! der
Mann verdient eine Medaille, er hat die Welt um eine
neue Entdeckung bereichert. „Joseph in Ägypten" er-
scheint neben der „Vestalin" als „große" Oper —- ein
großer Schnitzer, das kann mir als Mehul-Forscher, der
sämmtliche Manuskripte dieses großen Tondichters in
Händen gehabt, Herr Böhme aufs Wort glauben. Im
Weiteren werden Infusorien vom Schlage Gaveaux' und
Jadin's genannt, während einer der markantesten und ge-
wichtigsten Künstler dieser Epoche, Sueur,. fehlt. Natür-
lich, wenn man keine gründliche Literaturkenntnis besitzt
und sein bisschen Wissen bloß aus etlichen minderwertigen
Handbüchern und allenfalls aus der — Vierteljahrsschrift,
dieser schwächlichen und geistlosen Nachfolgerin der
seinerzeit von Chrysander so verdienstvoll redigirten „All-
gemeinen musikalischen Zeitung", schöpft, so können die
Resultate allerdings keine anderen sein. Dass von Mehul's
wichtigen Revolutionsopern keine einzige angeführt ist,
versteht sich nacli dem Angeführten von selbst.
Ferdinand Paer wird als Komponist „im seich-
testen Zopfstil" bezeichnet. Würde Herr Böhme „II Sar-
gino" oder „I Fuorusciti" des von ihm so hart be-
urtheilten Tonsetzers kennen, er wäre weiser geworden
und hätte das Schweigen als besseren Theil erwählt. Die
Postknechtsoper „Der Postillon von Longjumeau" wird
mit drolliger Gewissenhaftigkeit verzeichnet, während bei-
spielsweise „Dido", „Oedipus", „Die Danaiden", „Die
Räuberhöhle", „Paul und Virginie", „Telemach", „Ossian",
„Euphrosine", „Phrosine", „Ariodant", „Kamilla", „Romeo
und Julie", „Semiramis", „Wallace" u. a. m. gänzlich un-
berücksichtigt blieben. Doch seien wir nicht undankbar.
Herr Böhme weiß zu amüsiren, er hat immer neue Über-
raschungen zu bieten. So konstruirt er zu allgemeiner Ver-
blüffung eine „Berliner Opernschule", die gar nicht existirt
hat, und als deren Vertreter Lortzing mit „Zar und
Zimmermann" ausgegeben wird, der bekanntlich in Leipzig
zur ersten Aufführung gelangte. Flotow's „Stradella"
und „Martha" werden als der Meyerbeer'schen Richtung
angehörig verzeichnet, ein Einfall, über den jeder musi-
kalische Schulknabe auflachen muss, und mit gleicher
Konsequenz der Berliner (!) Opernschule, die als Phantom
in des Verfassers Kopfe spukt, zugetheilt („Stradella"
aufgeführt 1844 zu Hamburg, „Martha" 1847 in Wien).
Grundfalsch ist die Methode, die Komponisten bei ihrem
Todesjahre anzuführen. Für die Geschichte ist nur das
thatkräftige Eingreifen in die Kulturbewegung ent-
scheidend, nicht das zufällige Abreißen des Lebensfadens
irgend eines hervorragenden Individuums. Recht schlagende
Beispiele dafür bieten z. B. Rossini, der für die Opern-
geschichte noch vor 1830 gestorben ist, desgleichen Mon-