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Allgemeine Kunstchronik: ill. Zeitschr. für Kunst, Kunstgewerbe, Musik, Theater u. Litteratur — 16.1892

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https://doi.org/10.11588/diglit.73754#0728

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LITERATUR-BEILAGE.

Zwischen Wolke und Staub.

Skizze von
„Ein vollkommenes Kunstwerk, Professor, sagen Sie?
Ein vollkommenes Kunstwerk? — Gibt es überhaupt ein
solches ?"
„Welche Frage! Wie können Sie daran zweifeln,
Severine ?"
„Pah! Vollkommenes gibt es nicht in der unvoll-
kommenen Welt."
„Nun ja, wenn Sie das so auffassen," entgegnete
der Professor ruhig, „auch die Sonne hat Flecken."
Sie lächelte — so eigen.
„Ihr Lächeln, Fräulein Severine, ist zum Beispiel
immer ein vollkommenes Kunstwerk."
„Ja," sagte sie einfach, „aber nur für Sie, Professor,
weil Sie es verstehen."
„Ganz richtig, Verständnis ist ja auch die Haupt-
sache bei Beurtheilung eines Kunstwerkes; daran mangelt
es aber leider in unseren Tagen ganz gewaltig, und dieser
Mangel hat schon gar viele Talente untergraben, hat Viele
unglücklich gemacht — für ihr ganzes Leben."
„Ja, ja, unglücklich gemacht auf Lebenszeit," sagte
Severine nachdenklich, dann erhob sie sich und lehnte
sich an die Staffelei, vor welcher der Professor sass.
„Wissen Sie, warum ich heute gekommen bin ?"
„Wenn Ihr Besuch einen besonderen Grund hat,
dann weiß ich es nicht."
Sie lachte. „Ich möchte auch einmal rezensiren, Pro-
fessor, finden Sie das anmaßend ?"
„Ganz und gar nicht; Ihr Urtheil ist immer ein ge-
sundes, Sie haben ein freies, unbefangenes Auge, und was
die Hauptsache ist, Sie erfassen die Dinge mit dem Ge-
müt."
„Ei, wie mich das stolz macht."
„Was aber wollen Sie rezensiren? Mein Bild hier
ist ja erst in der Anlage begriffen, und meinen ,schlesi-
schen Markt' haben Sie ohnehin schmählich verrissen."
„Nicht mehr wie billig; das Gemüsemalen überlassen
Sie uns Frauen, das verstehen wir besser."
Er verbeugte sich galant.
„Erinnern Sie sich noch, Professor, an den reizenden
Ausflug, welchen wir im vergangenen Sommer machten,
an dem sich auch mein Papa und zwei Ihrer Herren
Schüler betheiligten ? Denken Sie noch an das interessante
Gespräch im Walde über Idealismus und Realismus in
der Kunst, wobei die beiden Herren in Streit gerieten,
da der Eine für das Ideale, der Andere fürs Reale eine
Lanze brach ?"
Der Professor nickte,
„Daraufhin stellten Sie den Streitenden eine Auf-
gabe. Jeder solle ein kleines Genrebild malen, mit Weih-
nachtsmotiv — etwa eine Bescherungsszene, und Jeder
möge dabei seine Ansicht vertreten. Lieferzeit — Weih-
nachtswoche, hieß es. Wir sind nun in der Weihnachts-
woche, Professor."
Der alte Herr stutzte, und Severine sah ihn ge-
spannt an.

Thesi Bohrn. (Nachdruck verboten.)
„Die Herren haben doch ihre Aufgabe gelöst ?"
„Gewiss haben sie das, aber —"
„Bitte, kein beeinflussendes Wort, ich möchte selbst
prüfen."
Der Professor brachte die beiden Bilder aus einem
Nebenraume und stellte sie feierlich auf eine Staffelei.
Severine setzte sich davor und versank in Betrachtung.
Da hatte sie nun die beiden Gegensätze, Idealismus und
Realismus, verkörpert vor sich.
Auf dem einen Bilde stand im Hintergründe ein
bereits völlig geplünderter Christbaum, @f dem noch zwei
tief heruntergebrannte Kerzchen flimmerten. Ein Kind lag
am Fußteppich eingeschlafen mit einer zerbrochenen Puppe
im Arme; daneben hockte ein anderes Kind und bearbeitete
mit der Schere ein schönes Bilderbuch, und in einer kleinen
Entfernung davon balgten sich schreiend zwei Knaben auf
einem großen Schaukelpferd. Im Vordergründe sah man
eine reich besetzte, aber schon arg verwüstete Tafel, um
welche sich die Theilnehmer in den gewagtesten Stellungen
gruppirten; man sah, dass die Lust hier ihren Höhepunkt
erreicht, und dass sämmtliche Gäste dem Gotte Bacchus
zu viel gehuldigt hatten, wie auch die vielen leeren, am
Boden umherrollenden Flaschen bewiesen. —
In Mitte des anderen Bildes stand ein reichge-
schmückter, hellerleuchteter Baum, welchen eine Kinder-
schar umstand, und diese reizenden, kleinen Erdenpilger
wurden von Engeln in langen, wallenden weißen Ge-
wändern, mit Goldreifen im lockigen Haar, bedient. Im
Hintergründe hielten sich die Eltern fest umschlungen und
sahen sich selig in die Augen.
Tiefe Stille herrschte im Atelier; der Professor unter-
brach sie zuerst.
„Nun, Severine — Ihr Urtheil ?"
„Mein Urtheil?" Sie sprang rasch auf. „Das eine
Bild ist — gemein, das andere — lächerlich naiv."
„Hm, hm, das ist ein vorschnelles Urtheil. Kind,
sehen Sie nur genauer auf die Einzelheiten, es ist viel
Gutes an beiden Bildern."
„Ach ja, was Zeichnung und Farbe anbelangt, un-
streitig; aber die Tendenz, die Auffassung! Der Eine zerrt
die Idee in den Staub, der Andere hebt sie in die Wolken
— da hinauf kann ich nicht, da hinunter mag ich nicht. Vor
dem Einen ekelt mir, für das Andere fehlt mir das Ver-
ständnis. Nur zwischen Wolke und Staub ist Leben, ist
Maß. — Professor," rief sie mit blitzenden Augen und
ergriff seine Hände, „Professor, wie denken Sie eigentlich
über diese Dinge? Sie verhielten sich damals im Walde so
schweigsam — Sie können doch unmöglich dem Idealismus
sowie dem Realismus in dieser Form ein Loblied singen?"
„Das thue ich auch nicht, Kind," rief er und nahm
ihre erhitzten Wangen zwischen seine großen Hände.
„Sehen Sie, Severine, die Aufgabe der Kunst ist es, ver-
edelnd auf die Menschheit zu wirken. Für mich heißt real
— wahr, und ideal — schön. Alle Übertreibung ist Un-
natur, und die sollte der Kunst ferne bleiben; auch bei ihr
 
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