Allgemeine Kunst-Chronik.
653
mäßig ausgedehnte Komposition, die dem Schwelgen
in schönen Klangwirkungen einen allzu großen Spiel-
raum gewährt, machte, trotzdem sie von Herrn Max
Lewinger mit bezaubernd süßem Tone gespielt ward,
einen ermattenden Eindruck. Ganz abgespannt musste
man dann noch Schubert's endlos breite C-dur-Sym-
phonie mit in Kauf nehmen, ein Geniewerk, dessen
zündende Wirkung durch seine höllische Länge (nicht
himmlische, wie Schumann meint) vernichtet wird.
Es ist unbegreiflich, warum Herr Hans Richter, den
doch die Erfahrung belehrt haben dürfte, nicht auf
die Wiederholungen der ersten Satztheile verzichtet.
Das Scherzo z. B. erschien wie eine Symphonie für
sich. Alles tiefere Interesse an dem Werk ward in
dieser Musikflut ersäuft. Ihrem eintönigen Rauschen
stand der Zuhörer schließlich ratlos gegenüber. Der
Schlusssatz ward glänzend gespielt. Voraussichtlich
werden die Philharmoniker bei der nächsten Wieder-
holung dieses Werkes darauf bedacht sein, durch
mehr Bequemlichkeit der Zuhörerschaft einen reineren
Genuss zu verschaffen.
Eine ganz ungemeine Anziehungskraft übte aufs
große Publikum die Wiederaufführung von Verdi's
Requiem im außerordentlichenGesellschafts-
konzert aus. Ein großartiges Produkt, das in seiner
blühenden Erfindungsfrische nicht nur als die Leistung
eines 60jährigen Greises, sondern auch überhaupt in
der heutigen Zeit wie ein Wunder erscheint. Als
kirchlich empfunden kann man es wol nicht ansehen.
Der Text ist dramatisch behandelt, die einbohrende
Schilderung der Schrecken des jüngsten Gerichtes
war ein Vorwurf, der ein Genie wie Verdi zur Ver-
tonung reizte. Selbstverständlich übten die Tiefe der
Konzeption, die Melodienfülle und scharfe Charak-
teristik dieser gewaltigen Schöpfung eine zwingende
Wirkung. Den Hauptköder für die große Menge
bildete jedoch die Mitwirkung italienischer Sänger,
die sämmtlich zum Stamme jener Asras gehören, die
loslegen, ehe sie sterben, und das thaten sie alle. Die
durch unsichere Intonation ärgerlich machende Frau
Luisa Gilboni ebensdwol wie ihre ungleich bessere
Partnerin Frau Giuseppina Pasqua, der stimmfrische
und wahrhaft künstlerisch gebildete Tenorist Herr
Franz Marconi und nicht zumindest der kräftige
Bassist Herr Franz Navarrini schossen im Eifer
wiederholt über das Ziel. Wenn Signora Pasqua mit
schmerzlich verzerrten Zügen dastand, das Notenblatt
bebend in den Händen, die Töne langaushallend mit
einem Pathos sang, als gelte es, den letzten Seufzer
auszuhauchen, und als der Athem zu kurz ward, mit
einem vom Zucken des Körpers begleiteten Kopf-
beuteln das Ende desselben markirte, so schien uns
dies zwar für ihre schauspielerische Gewandtheit,
nicht aber für ihren guten Geschmack beim Vortrag
eines ernsten Werkes, noch dazu einer Kirchenkom-
position, zu sprechen. Ein derartig koulissenreiße-
risches Gebaren stört, es kann einem die Freude auch
an dem besten Werk verleiden. Das Publikum schien
anderer Ansicht zu sein. Es begrüßte jede sanglich
bemerkenswerte Darbietung, aber auch jede Unart
und unschöne Übertreibung mit tosendem Beifall.
Dr. Max Dietz.
Neue Schriften über Kunstdenkmäler und
moderne Kunst
1. Georg Ebers: „Die koptische Kunst" (Sinnbildliches). Leipzig,
Wilhelm Engelmann, 1892. — 2. Dr. Heinrich Pudor: „Ketzerische
Kunstbriefe aus Italien." Dresden, Max Damm, 1893. — 3. Julius
Leisching: „Der Fafadenschmuck." Wien, Pest, Leipzig. A. Hart-
leben. — 4. Lothar Abel: „Das kleine Haus mit Garten." Wien,
Pest, Leipzig. A. Hartleben.
1. Von dem Geiste einer längst hingeschwundenen
Kunst mächtig ergriffen, hat Georg Ebers, der berühmte
Archäolog und Erzähler, größere Arbeiten, die ihn seit
längerer Zeit beschäftigen, unterbrochen, um eine kurze,
aber gründliche Studie über einen Zweig der altchrist-
lichen Skulptur zu schreiben. Es war die auf dem Stamme
der altägyptischen Kunst emporgeblühte christliche Plastik,
welche den Ägyptologen so stark angezogen, und wer mit
den Problemen der vergleichenden Kunstgeschichte ver-
traut ist, wird dies nicht verwunderlich finden. Gibt es
doch kaum eine interessantere Seite der kunstgeschichtlichen
Forschung, als das Ableiten der Ideen und Formen einer
neu entstehenden Kunst aus dem Typenschatze der zu-
nächst vorangehenden. Man weiß, wie viel Zeit, Mühe
und Geist darauf verwendet — und zum guten Theile
auch verschwendet — wurden, um die Formen der griechischen
Architektur und die Typen der griechischen Plastik aus der
assyrischen und ägyptischen Kunst abzuleiten. Die Rücksicht
auf die Empfindlichkeit der katholischen Kirche war es, welche
bislang das Gedeihen einer analogen Forschung hinsichtlich
der Formen, Typen und Symbole der altchristlichen Kunst ge-
hindert. Immerhin jedoch haben die Historiker der altchrist-
lichen Kunst bereits eine ganz ansehnliche Reihe schüchtern
vorgebrachter, aber sehr schwerwiegender Andeutungen ge-
macht, in welcher Weise die altchristliche Kunst aus der
griechisch-römischen sich entwickelt hat.
Georg Ebers nimmt nun den Faden solcher Unter-
suchungen auf, um ihn auf einem noch viel weniger berührten,
aber kaum weniger fruchtbaren Boden fortzuspinnen. Gaston
Maspero, der bekannte Kenner altorientalischer Geschichte
und Kunst und oberste Leiter des ägyptologischen Instituts
in Kairo, hat eine Reihe von Denkmälern der koptischen
Kunst gesammelt und im Museum von Bulacq aufgestellt;
Gayet hat hierauf diese Denkmäler beschrieben und re-
produzirt, und Ebers unternimmt es nun, sie zu erklären.
Was ist koptische Kunst? wird der Leser wol zu-
nächst fragen. „Kopten" ist eine verderbte Form des
griechischen „Aigyptios", wurde zunächst von den Trägern
dieses Volksnamens „Gyptios" oder „Kyptaios", von den
Arabern „Qibt" ausgesprochen und war der Name jener
National-Ägypter, welche das Christentum angenommen.
Es ist bekannt, dass das Christentum in Ägypten rasch
Eingang gefunden, da die Ägypter in demselben viele
Grundlehren ihrer alten Religion in veredelter Form
wiederfanden. Die Kunst nun, welche von den christlichen
Ägyptern bis zur Besitzergreifung Ägyptens durch den
Islam durch einige Jahrhunderte gepflegt wurde, nennt
man koptische Kunst.
Als die Kopten ihre eigenartige Kunst auszuüben
begannen (im V. und VI. Jahrhundert), gab es in Ägypten
zwei bewährte Kunstkreise: den griechischen und den
heidnisch-ägyptischen. Die koptische Plastik nun verpönte
den sinnlichen Formenreiz der hellenischen Kunst, welcher
mit dem asketischen Geiste des Christentums im Wider-
2
653
mäßig ausgedehnte Komposition, die dem Schwelgen
in schönen Klangwirkungen einen allzu großen Spiel-
raum gewährt, machte, trotzdem sie von Herrn Max
Lewinger mit bezaubernd süßem Tone gespielt ward,
einen ermattenden Eindruck. Ganz abgespannt musste
man dann noch Schubert's endlos breite C-dur-Sym-
phonie mit in Kauf nehmen, ein Geniewerk, dessen
zündende Wirkung durch seine höllische Länge (nicht
himmlische, wie Schumann meint) vernichtet wird.
Es ist unbegreiflich, warum Herr Hans Richter, den
doch die Erfahrung belehrt haben dürfte, nicht auf
die Wiederholungen der ersten Satztheile verzichtet.
Das Scherzo z. B. erschien wie eine Symphonie für
sich. Alles tiefere Interesse an dem Werk ward in
dieser Musikflut ersäuft. Ihrem eintönigen Rauschen
stand der Zuhörer schließlich ratlos gegenüber. Der
Schlusssatz ward glänzend gespielt. Voraussichtlich
werden die Philharmoniker bei der nächsten Wieder-
holung dieses Werkes darauf bedacht sein, durch
mehr Bequemlichkeit der Zuhörerschaft einen reineren
Genuss zu verschaffen.
Eine ganz ungemeine Anziehungskraft übte aufs
große Publikum die Wiederaufführung von Verdi's
Requiem im außerordentlichenGesellschafts-
konzert aus. Ein großartiges Produkt, das in seiner
blühenden Erfindungsfrische nicht nur als die Leistung
eines 60jährigen Greises, sondern auch überhaupt in
der heutigen Zeit wie ein Wunder erscheint. Als
kirchlich empfunden kann man es wol nicht ansehen.
Der Text ist dramatisch behandelt, die einbohrende
Schilderung der Schrecken des jüngsten Gerichtes
war ein Vorwurf, der ein Genie wie Verdi zur Ver-
tonung reizte. Selbstverständlich übten die Tiefe der
Konzeption, die Melodienfülle und scharfe Charak-
teristik dieser gewaltigen Schöpfung eine zwingende
Wirkung. Den Hauptköder für die große Menge
bildete jedoch die Mitwirkung italienischer Sänger,
die sämmtlich zum Stamme jener Asras gehören, die
loslegen, ehe sie sterben, und das thaten sie alle. Die
durch unsichere Intonation ärgerlich machende Frau
Luisa Gilboni ebensdwol wie ihre ungleich bessere
Partnerin Frau Giuseppina Pasqua, der stimmfrische
und wahrhaft künstlerisch gebildete Tenorist Herr
Franz Marconi und nicht zumindest der kräftige
Bassist Herr Franz Navarrini schossen im Eifer
wiederholt über das Ziel. Wenn Signora Pasqua mit
schmerzlich verzerrten Zügen dastand, das Notenblatt
bebend in den Händen, die Töne langaushallend mit
einem Pathos sang, als gelte es, den letzten Seufzer
auszuhauchen, und als der Athem zu kurz ward, mit
einem vom Zucken des Körpers begleiteten Kopf-
beuteln das Ende desselben markirte, so schien uns
dies zwar für ihre schauspielerische Gewandtheit,
nicht aber für ihren guten Geschmack beim Vortrag
eines ernsten Werkes, noch dazu einer Kirchenkom-
position, zu sprechen. Ein derartig koulissenreiße-
risches Gebaren stört, es kann einem die Freude auch
an dem besten Werk verleiden. Das Publikum schien
anderer Ansicht zu sein. Es begrüßte jede sanglich
bemerkenswerte Darbietung, aber auch jede Unart
und unschöne Übertreibung mit tosendem Beifall.
Dr. Max Dietz.
Neue Schriften über Kunstdenkmäler und
moderne Kunst
1. Georg Ebers: „Die koptische Kunst" (Sinnbildliches). Leipzig,
Wilhelm Engelmann, 1892. — 2. Dr. Heinrich Pudor: „Ketzerische
Kunstbriefe aus Italien." Dresden, Max Damm, 1893. — 3. Julius
Leisching: „Der Fafadenschmuck." Wien, Pest, Leipzig. A. Hart-
leben. — 4. Lothar Abel: „Das kleine Haus mit Garten." Wien,
Pest, Leipzig. A. Hartleben.
1. Von dem Geiste einer längst hingeschwundenen
Kunst mächtig ergriffen, hat Georg Ebers, der berühmte
Archäolog und Erzähler, größere Arbeiten, die ihn seit
längerer Zeit beschäftigen, unterbrochen, um eine kurze,
aber gründliche Studie über einen Zweig der altchrist-
lichen Skulptur zu schreiben. Es war die auf dem Stamme
der altägyptischen Kunst emporgeblühte christliche Plastik,
welche den Ägyptologen so stark angezogen, und wer mit
den Problemen der vergleichenden Kunstgeschichte ver-
traut ist, wird dies nicht verwunderlich finden. Gibt es
doch kaum eine interessantere Seite der kunstgeschichtlichen
Forschung, als das Ableiten der Ideen und Formen einer
neu entstehenden Kunst aus dem Typenschatze der zu-
nächst vorangehenden. Man weiß, wie viel Zeit, Mühe
und Geist darauf verwendet — und zum guten Theile
auch verschwendet — wurden, um die Formen der griechischen
Architektur und die Typen der griechischen Plastik aus der
assyrischen und ägyptischen Kunst abzuleiten. Die Rücksicht
auf die Empfindlichkeit der katholischen Kirche war es, welche
bislang das Gedeihen einer analogen Forschung hinsichtlich
der Formen, Typen und Symbole der altchristlichen Kunst ge-
hindert. Immerhin jedoch haben die Historiker der altchrist-
lichen Kunst bereits eine ganz ansehnliche Reihe schüchtern
vorgebrachter, aber sehr schwerwiegender Andeutungen ge-
macht, in welcher Weise die altchristliche Kunst aus der
griechisch-römischen sich entwickelt hat.
Georg Ebers nimmt nun den Faden solcher Unter-
suchungen auf, um ihn auf einem noch viel weniger berührten,
aber kaum weniger fruchtbaren Boden fortzuspinnen. Gaston
Maspero, der bekannte Kenner altorientalischer Geschichte
und Kunst und oberste Leiter des ägyptologischen Instituts
in Kairo, hat eine Reihe von Denkmälern der koptischen
Kunst gesammelt und im Museum von Bulacq aufgestellt;
Gayet hat hierauf diese Denkmäler beschrieben und re-
produzirt, und Ebers unternimmt es nun, sie zu erklären.
Was ist koptische Kunst? wird der Leser wol zu-
nächst fragen. „Kopten" ist eine verderbte Form des
griechischen „Aigyptios", wurde zunächst von den Trägern
dieses Volksnamens „Gyptios" oder „Kyptaios", von den
Arabern „Qibt" ausgesprochen und war der Name jener
National-Ägypter, welche das Christentum angenommen.
Es ist bekannt, dass das Christentum in Ägypten rasch
Eingang gefunden, da die Ägypter in demselben viele
Grundlehren ihrer alten Religion in veredelter Form
wiederfanden. Die Kunst nun, welche von den christlichen
Ägyptern bis zur Besitzergreifung Ägyptens durch den
Islam durch einige Jahrhunderte gepflegt wurde, nennt
man koptische Kunst.
Als die Kopten ihre eigenartige Kunst auszuüben
begannen (im V. und VI. Jahrhundert), gab es in Ägypten
zwei bewährte Kunstkreise: den griechischen und den
heidnisch-ägyptischen. Die koptische Plastik nun verpönte
den sinnlichen Formenreiz der hellenischen Kunst, welcher
mit dem asketischen Geiste des Christentums im Wider-
2