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Klein, Dieter; Dülfer, Martin; Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege; Dülfer, Martin [Ill.]
Martin Dülfer: Wegbereiter der deutschen Jugendstilarchitektur — Arbeitshefte des Bayerischen Landesamtes für Denkmalpflege, Band 8: München: Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege, 1981

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https://doi.org/10.11588/diglit.63235#0023

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tion einer nachfolgenden Generation zu werten: die Grund-
risse wurden zugunsten gleichmäßiger Achsabstände und
stilistischem Formalismus zuliebe vernachlässigt, wichtig
waren „schöne Fassaden“, für eine brauchbare Raumein-
teilung interessierte man sich weniger.286)
Unzufriedenheit mit diesem Zustand manifestierte sich vor-
erst nur vereinzelt: so vertrat John Ruskin bereits in den
1840er Jahren die Überzeugung, daß „die Architektur der
Anfang aller Kunst sein muß...daß das Gedeihen unserer
Maler- und Bildhauerschulen in erster Linie von dem Gedei-
hen unserer Architektur abhängig ist. Alle Künste müssen
solange im Schwächezustand verharren, bis diese bereit
sein wird, die Führung wieder zu übernehmen“.287)
Unter solchen Aspekten (deren eingehende Behandlung
den Rahmen diese Monographie zweifelsohne sprengen
würde) schien es kein Zufall, daß viele der bedeutenden Ar-
chitekten des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts sich in
jungen Jahren zunächst mit Malerei beschäftigen, bevor sie
sich für die Baukunst entschieden.288)
Vorstellung von „Stil“ im Zeitalter des Eklektizismus
Das 19. Jahrhundert war „gebildeter“, das heißt belesener
als alle vorangegangenen Epochen; aus der Breitenwirkung
der Belesenheit ist es auch zu erklären, daß man bewußt ei-
nen neuen, sozusagen wissenschaftlich durchdachten
Baustil schaffen wollte, als das Interesse für Architektur
nach der Jahrhundertmitte wieder zunahm.
Vom „Studium der alten Bauwerke“ erhoffte man eine „Ent-
wicklung des künstlerischen Empfindens“289), die aber nur
bedingt eintrat. Natürlich trugen die meisten der Stilkopien
den Stempel ihrer Entstehungszeit; gerade darin aber lagen
die Möglichkeiten zu eigenständigen Leistungen und die
schöpferische Originalität jener Zeit.
„An der Quelle der Künste des 19. Jahrhunderts sitzt der
Kunstprofessor, nicht mehr der Künstler“290), der Architekt
untersuchte die älteren Bauten, „zeichnete und vermaß sie,
beschrieb und datierte sie“ und baute dann mehr oder we-
niger freie Nachbildungen dessen, was er gesehen und stu-
diert hatte.291) Die Handwerker wurden zu Kopisten und Or-
namentzeichnern „erniedrigt“, weil sie an Kunstgewerbe-
schulen und Baugewerkschulen vorwiegend dazu ausgebil-
det waren, die verflossenen Stile „grammatikalisch richtig“
zu reproduzieren.292)
Dabei übersah man, daß sich ein Stil nicht „machen“ läßt,
daß Stil nur unbewußt aus der Fülle der Zeitströmungen
entsteht und deshalb den Zeitgenossen in seinen Anfängen
oft verborgen bleibt293), „daß erst die späteren Generatio-
nen erkennen können, worin das Wesen eines gemeinsa-
men Elementes beruht, das für alle maßgebenden Werke ei-
ner Epoche typisch wird“.294)
Die Stilnachahmungen (und um solche handelte es sich
trotz mancher origineller und eigenständiger Abwandlung
der überlieferten Formen bei den erzielten Produkten) unter-
scheiden sich von den „echten“ Stilen vor allem dadurch,
daß „aus einem Wissen um das Erscheinungsbild“ der Stil
nur lückenhaft wiedergegeben werden konnte295); vor allem
wurden Äußerlichkeiten reproduziert, denen das Verständ-
nis für die technischen bzw. handwerklichen Voraussetzun-
gen mangelte, das letztlich die Grundlage für jeden Stil bil-
det.

Immerhin war die wissenschaftliche Untersuchung und die
daraus resultierende Wiederverwendung der Formen älte-
rer Bauten, die „Altertümelei“, etwas bislang kaum gekann-
tes: „Das Nachahmen des Alten ist also ganz gewiß eine
ganz moderne Tätigkeit“.296)
Wenn der Eklektizismus nicht die Gesamtheit eines Stiles
erfassen bzw. erneuern wollte, war er von bemerkenswert
schöpferischer Intensität; zudem bedingten die veränderten
Wohn- und Geschäftszwecke neue Lösungen bzw. Abkehr
von den althergebrachten Bautypen. Aus diesem Grund
mußten die verwendeten Stile vielfach abgewandelt werden
— dafür war schöpferisches Geschick der Planenden Vor-
aussetzung.297)
Gute architektonische Ideen wurden zwar nicht schlechter,
wenn sie mit Mitteln einer historischen Formensprache vor-
getragen waren, sie wirkten aber „weniger eindringlich als
eine zeitgemäße Idee, die auch zeitgemäß ausgedrückt
ist“.298)
Ein der eklektischen Baukunst teilweise zu recht gemach-
ter Vorwurf ist der einer weit verbreiteten Prunksucht. Dafür
sind die Wurzeln wohl in der Tatsache zu suchen, daß ältere
Alltagsbauten wegen ihrer bescheidenen Erscheinung un-
beachtet blieben, daß man aber zum Beispiel Formen von
Renaissanceschlössern auch auf das kleinste Bürgerhaus
übertrug, „den Palazzo Pitti in kleinstem Maßstab reprodu-
zierte“ und so den gleichen Fehler beging wie der Klassizis-
mus, wenn er auch banale Bauaufgaben mit griechischen
Tempelfronten verbrämte.299) „Das Bürgertum des 19. Jahr-
hunderts griff mit gierigen Händen nach der Aristokraten-
kunst... es verfiel, wie der Barbar, auf das Glänzende, roh
Auffällige, wollte seinen Reichtum zeigen“.300)
Von den einzelnen historischen Stilen hatte man idealtypi-
sche Begriffe gebildet, deren Bedeutungsinhalt im Bil-
dungsniveau der Zeit wurzelte: Gotik für Kirchen, Renais-
sance (als Symbol des humanistischen Zeitalters) für Mu-
seen, Universitäten und Schulen, Barock für Schlösser und
Theater.301)
Ab der Jahrhundertwende wurde der Begriff „Monumental-
bau“ auch für Wohnhäuser und Fabriken verwendet, wenn
sie nur entsprechend groß waren.302) Gegen alle diese Zeit-
strömungen lehnte sich die Generation der um 1860 gebo-
renen Architekten auf:303) man wehrte sich gegen die an-
geblich künstlerischen Ansprüche bei einfachen Bauten,
fing an, die „Stilmaskerade“ der Mietshäuser als ebenso
verfehlt zu empfinden wie „einen Zeitungsaufsatz in Form
eines Epos“.304)
Vor allem griffen die „Jungen“ ihre Lehrer an: „Vollständige
Mißachtung moderner Bedürfnisse, völliges Aufgehen in
Schulweisheiten und historischen Formelkram, ekle Dün-
kelhaftigkeit gegenüber aller junger Kraft, das sind charak-
teristische Merkmale Jener, die heute fast alle Lehrstühle
besetzt halten. ,.“305) Man wetterte auch gegen den Bürger-
stand schlechthin, dem man vorwarf, im Streben nach An-
erkennung sogar seiner bürgerlichen Architektur „durch
Anheften von aristokratischen Flicken der Vergangenheit“
einen aristokratischen Anstrich geben zu wollen. Als aus-
gesprochen lächerlich wurde das „Kopieren der aristokrati-
schen Lebensart“ empfunden, all die „zweifelhaften Errun-
genschaften an sogenannten Höflichkeiten („Gnädige
Frau“, Handkuß usw.), das Heraushängen von Titeln und
äußerlichen Rangzeichen“ 306)

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