Villenbauten in Deutschland
Städtische Bauweise auf dem Lande
In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts erfreute
sich die Villa in Deutschland zunehmender Beliebtheit; die
Architekten der Gründerzeit übertrugen zunächst die städti-
sche Bauweise auch in die Vororte bzw. aufs Land. Haupt-
fassaden und Hauptwohnräume waren meist ohne Rück-
sicht auf die Himmelsrichtung nach der Straße angeordnet,
das Untergeschoß bewohnbar ausgebaut.1113)
Die Repräsentationsräume nahmen einen großen Teil des
Hauses ein, sie gingen oft auf Kosten der Schlaf- oder der
Wirtschaftsräume: „... die vielfachen Unzuträglichkeiten
der städtischen Etage sind... mit in das Landhaus ge-
schleppt worden. Die viel zu engen Küchen... die verkrüp-
pelten Vorratsräume... die dunklen Korridore, die Ober-
lichter... sie alle leiten ihren Ursprung aus der Etage
her...“1114) Manchmal baute man die Villen größer als not-
wendig, nur weil der Bauherr eine Anzahl von Möbeln hatte,
von denen er sich nicht trennen wollte: protzige Repräsen-
tation galt als vornehm, „alles war für die Augen der ande-
ren bestimmt“.1115) Diese zeitgenössische Kritik war zwei-
felsohne zu hart: unterschieden sich doch die Bedürfnisse
eines Bauherrn während des Booms der Gründerzeit und
die damaligen Vorstellungen vom „Wohnen im Grünen“
ganz wesentlich von den Idealen und Erkenntnissen der Re-
former um 1900.
Englische Vorbilder
Nach völlig anderen Gesichtspunkten war das englische
Landhaus gestaltet, das in den neunziger Jahren für den
deutschen Villenbau von größter Bedeutung werden
sollte.1116)
Dort achtete man bereits in verstärktem Maße auf die Lage
des Bauplatzes zur Himmelsrichtung, richtete die Wohnräu-
me nach dem Garten bzw. nach der Sonne und ließ das be-
wohnte Untergeschoß zugunsten ausgebauter Dachräume
weg. Die Bewohner konnten von mindestens einem Raum
ohne Treppenabsatz ins Freie treten — entweder auf eine
Terrasse oder direkt in den Garten1117): „Dem Wesen des
Landhauses entspricht es, daß die Wohnräume... den Gar-
ten erschließen. Der Garten ist ein integrierender Bestand-
teil des Landhauses“1118).
Als „idealer“ Standort des Hauses galt die Nord-West-Ecke
eines Grundstückes, vorausgesetzt, daß der Hauptzugang
von Norden oder Westen erfolgen konnte; die Hauptwohn-
räume boten auf diese Weise einen besonders guten Über-
blick über die gesamte Gartenanlage.1119)
„Wohnseiten“ waren nach Osten oder Süden orientiert, die
Westlage wurde der starken Erwärmung im Sommer wegen
gemieden. Vor allem in Schlafzimmern war Morgensonne
erwünscht, auch Eßzimmer legte man gerne nach Osten;
dagegen brauchten Wirtschafts- und Nebenräume weniger
Sonne, sie richtete man zusammen mit Eingangsräumen
und Treppenhäusern vorzugsweise nach Norden aus.1120)
Erfolgreichster Architekt des englischen Landhausstils war
Charles A. Voysey; er versuchte durch schlichte Materia-
lien, hohe Dächer und stark betonte Strebepfeiler zur Inte-
gration von Architektur und Landschaft beizutragen und da-
bei malerische Wirkungen zu erzielen.1121)
Seine breitgelagerten Baukörper mit einheitlichen, weißen
Wandflächen, die funktionell-asymmetrisch angelegten ein-
zelnen Bauteile, die flachen Polygonalerker — oft mit ein-
gebauten Sitzplätzen, die tief herabgezogenen Dächer, die
Fensterbänder mit ihrer Sprossenteilung und die abge-
schrägten strebepfeilerartigen Gebäudeecken, die eine
„optisch stärkere Verbindung zur Erde“ vermitteln und die
„Steifheit des rechten Winkels“ aufheben sollten 1122), wur-
den von einer Reihe deutscher Architekten begeistert auf-
genommen und auf den Kontinent übertragen.
Die wichtigsten Verbreiter der englischen Landhausele-
mente waren in Deutschland Muthesius, Schultze-Naum-
burg, Tessenow und, wohl als erster von allen Genannten,
Dülfer. Von den Engländern wurde neben anderem die auf-
wendige, zweigeschossige „Halle“ als künstlerisch beson-
ders interessantes Motiv übernommen; wie vordem der Sa-
lon, wurde die Halle zum „Repräsentationsstück“, obwohl
die tatsächliche Benutzbarkeit eines solchen Raumes eher
gering schien: „...jeder wird eine natürliche Abneigung ha-
ben, sich in den offenen Weg zu setzen...“1123)
Zu einem wirklich benutzten Wohnraum wurde sie — jeden-
falls in Deutschland — nur in sehr seltenen Fällen: „Das
Bewohnen der Halle spielt sich mehr in der Vorstellung [der
Architekten] als in der Wirklichkeit ab.“1124)
Nur in einem Punkt stieß das englische Vorbild auf Ableh-
nung: man behielt in Deutschland die traditionell übliche
Verbindung der einzelnen Räume untereinander bei, wäh-
rend in England die Türen meist nur auf einen zentralen
Flur führten.1125)
Amerikanische Vorbilder
Ebenso wie der europäische gelangte auch der amerikani-
sche Villenbau in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
nach einer Phase des prunkvollen Historismus zu einem
schlichteren Ausdruck, der kaum auf äußere Repräsenta-
tion bedacht war; die Architekten nahmen gerne die alten
Blockhäuser zum Vorbild, Holz spielte als Baumaterial in
Amerika seit jeher eine große Rolle.1126)
Im Gegensatz zu Europa waren baupolizeiliche Vorschriften
weitgehend unbekannt, die dortigen Landhäuser weisen
deshalb meist reichere Gliederung in Aufbau und Gruppie-
rung auf als die englischen Bauten.1127)
Als hauptsächliches Merkmal fielen tief herabgezogene
Schindeldächer auf, ein weiteres Charakteristikum waren
unverhältnismäßig große Veranden, die sich wegen des in
weiten Teilen Amerikas lange herrschenden Spätherbstes
(„Indian-Summer“ genannt) besonderer Beliebtheit erfreu-
ten. Sie gewährleisteten einen windgeschützten Aufenthalt
im Freien und boten zudem Schutz vor Insekten: .der
Amerikaner lebt im Sommer auf der Veranda“ heißt es in ei-
ner Publikation von 1907.1128)
106
Städtische Bauweise auf dem Lande
In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts erfreute
sich die Villa in Deutschland zunehmender Beliebtheit; die
Architekten der Gründerzeit übertrugen zunächst die städti-
sche Bauweise auch in die Vororte bzw. aufs Land. Haupt-
fassaden und Hauptwohnräume waren meist ohne Rück-
sicht auf die Himmelsrichtung nach der Straße angeordnet,
das Untergeschoß bewohnbar ausgebaut.1113)
Die Repräsentationsräume nahmen einen großen Teil des
Hauses ein, sie gingen oft auf Kosten der Schlaf- oder der
Wirtschaftsräume: „... die vielfachen Unzuträglichkeiten
der städtischen Etage sind... mit in das Landhaus ge-
schleppt worden. Die viel zu engen Küchen... die verkrüp-
pelten Vorratsräume... die dunklen Korridore, die Ober-
lichter... sie alle leiten ihren Ursprung aus der Etage
her...“1114) Manchmal baute man die Villen größer als not-
wendig, nur weil der Bauherr eine Anzahl von Möbeln hatte,
von denen er sich nicht trennen wollte: protzige Repräsen-
tation galt als vornehm, „alles war für die Augen der ande-
ren bestimmt“.1115) Diese zeitgenössische Kritik war zwei-
felsohne zu hart: unterschieden sich doch die Bedürfnisse
eines Bauherrn während des Booms der Gründerzeit und
die damaligen Vorstellungen vom „Wohnen im Grünen“
ganz wesentlich von den Idealen und Erkenntnissen der Re-
former um 1900.
Englische Vorbilder
Nach völlig anderen Gesichtspunkten war das englische
Landhaus gestaltet, das in den neunziger Jahren für den
deutschen Villenbau von größter Bedeutung werden
sollte.1116)
Dort achtete man bereits in verstärktem Maße auf die Lage
des Bauplatzes zur Himmelsrichtung, richtete die Wohnräu-
me nach dem Garten bzw. nach der Sonne und ließ das be-
wohnte Untergeschoß zugunsten ausgebauter Dachräume
weg. Die Bewohner konnten von mindestens einem Raum
ohne Treppenabsatz ins Freie treten — entweder auf eine
Terrasse oder direkt in den Garten1117): „Dem Wesen des
Landhauses entspricht es, daß die Wohnräume... den Gar-
ten erschließen. Der Garten ist ein integrierender Bestand-
teil des Landhauses“1118).
Als „idealer“ Standort des Hauses galt die Nord-West-Ecke
eines Grundstückes, vorausgesetzt, daß der Hauptzugang
von Norden oder Westen erfolgen konnte; die Hauptwohn-
räume boten auf diese Weise einen besonders guten Über-
blick über die gesamte Gartenanlage.1119)
„Wohnseiten“ waren nach Osten oder Süden orientiert, die
Westlage wurde der starken Erwärmung im Sommer wegen
gemieden. Vor allem in Schlafzimmern war Morgensonne
erwünscht, auch Eßzimmer legte man gerne nach Osten;
dagegen brauchten Wirtschafts- und Nebenräume weniger
Sonne, sie richtete man zusammen mit Eingangsräumen
und Treppenhäusern vorzugsweise nach Norden aus.1120)
Erfolgreichster Architekt des englischen Landhausstils war
Charles A. Voysey; er versuchte durch schlichte Materia-
lien, hohe Dächer und stark betonte Strebepfeiler zur Inte-
gration von Architektur und Landschaft beizutragen und da-
bei malerische Wirkungen zu erzielen.1121)
Seine breitgelagerten Baukörper mit einheitlichen, weißen
Wandflächen, die funktionell-asymmetrisch angelegten ein-
zelnen Bauteile, die flachen Polygonalerker — oft mit ein-
gebauten Sitzplätzen, die tief herabgezogenen Dächer, die
Fensterbänder mit ihrer Sprossenteilung und die abge-
schrägten strebepfeilerartigen Gebäudeecken, die eine
„optisch stärkere Verbindung zur Erde“ vermitteln und die
„Steifheit des rechten Winkels“ aufheben sollten 1122), wur-
den von einer Reihe deutscher Architekten begeistert auf-
genommen und auf den Kontinent übertragen.
Die wichtigsten Verbreiter der englischen Landhausele-
mente waren in Deutschland Muthesius, Schultze-Naum-
burg, Tessenow und, wohl als erster von allen Genannten,
Dülfer. Von den Engländern wurde neben anderem die auf-
wendige, zweigeschossige „Halle“ als künstlerisch beson-
ders interessantes Motiv übernommen; wie vordem der Sa-
lon, wurde die Halle zum „Repräsentationsstück“, obwohl
die tatsächliche Benutzbarkeit eines solchen Raumes eher
gering schien: „...jeder wird eine natürliche Abneigung ha-
ben, sich in den offenen Weg zu setzen...“1123)
Zu einem wirklich benutzten Wohnraum wurde sie — jeden-
falls in Deutschland — nur in sehr seltenen Fällen: „Das
Bewohnen der Halle spielt sich mehr in der Vorstellung [der
Architekten] als in der Wirklichkeit ab.“1124)
Nur in einem Punkt stieß das englische Vorbild auf Ableh-
nung: man behielt in Deutschland die traditionell übliche
Verbindung der einzelnen Räume untereinander bei, wäh-
rend in England die Türen meist nur auf einen zentralen
Flur führten.1125)
Amerikanische Vorbilder
Ebenso wie der europäische gelangte auch der amerikani-
sche Villenbau in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
nach einer Phase des prunkvollen Historismus zu einem
schlichteren Ausdruck, der kaum auf äußere Repräsenta-
tion bedacht war; die Architekten nahmen gerne die alten
Blockhäuser zum Vorbild, Holz spielte als Baumaterial in
Amerika seit jeher eine große Rolle.1126)
Im Gegensatz zu Europa waren baupolizeiliche Vorschriften
weitgehend unbekannt, die dortigen Landhäuser weisen
deshalb meist reichere Gliederung in Aufbau und Gruppie-
rung auf als die englischen Bauten.1127)
Als hauptsächliches Merkmal fielen tief herabgezogene
Schindeldächer auf, ein weiteres Charakteristikum waren
unverhältnismäßig große Veranden, die sich wegen des in
weiten Teilen Amerikas lange herrschenden Spätherbstes
(„Indian-Summer“ genannt) besonderer Beliebtheit erfreu-
ten. Sie gewährleisteten einen windgeschützten Aufenthalt
im Freien und boten zudem Schutz vor Insekten: .der
Amerikaner lebt im Sommer auf der Veranda“ heißt es in ei-
ner Publikation von 1907.1128)
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