Sedlmayr schreibt dieser Architektengeneration als typi-
sches Merkmal das „Pathos der Sachlichkeit“ zu307); seine
Feststellung, daß das 19. und 20. Jahrhundert „große Bega-
bungen und Geister“ besaß, die „tiefer und leidenschaft-
licher sind als die führenden Meister des 18. Jahrhun-
derts“308) trifft auf diesen Personenkreis mit Sicherheit in
besonderem Maße zu.
Verwendete Baustile im 19. Jahrhundert
Die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts beherrschte
zweifellos der Klassizismus; den meisten Bauaufgaben
wurde, wie bereits angedeutet, durch einen vorgelagerten
Säulenportikus „eine Art höherer ästhetischer Weihe“
zuteil309), soweit es die Mittel gestatteten und soweit nicht
von Haus aus eine griechische Tempelkopie vorgesehen
war.310)
Gegen solche totale Uniformierung der Baukunst setzte ein
„Pluralismus der Stile“ ein, wie er vorher niemals denkbar
gewesen wäre.311) Zwar hielt sich der Klassizismus in eini-
gen Gebieten Deutschlands, bis er vom Eklektizismus ab-
gelöst wurde, so zum Beispiel in Berlin und damit in Preu-
ßen. In Süddeutschland und Österreich hatte der „Rundbo-
genstil“ den Klassizismus zurückgedrängt312); der für die-
sen Stil besonders maßgebende Architekt Heinrich Hübsch
sprach sich bereits 1829 gegen den „archäologischen Cha-
rakter“ von Gebäuden aus.313)
Ohne großen Erfolg, wie sich bald zeigen sollte; in den Drei-
ßiger Jahren besann man sich auf die „nationalen Überlie-
ferungen“ und entdeckte die Gotik wieder.314) Der Gotik
folgte die Neurenaissance, die sich (in historisch richtigem
Ablauf) in Früh-, Hoch- und Spätrenaissance gliedern sollte,
wobei die Spätrenaissance der Siebziger- und Achtziger
Jahre (wie ihr unmittelbares Vorbild) besonders prunklie-
bend war.315)
Auch der wohl einflußreichste deutsche Architekt des 19.
Jahrhunderts, Gottfried Semper, bediente sich mit Vorliebe
der Renaissanceformen; er schätzte sie sogar höher als die
Formen der Antike.316)
Als „neue“ Stilrichtung kam die „Deutsche Renaissance“
anfangs der Siebziger Jahre in Deutschland zum Durch-
bruch317), während man im österreichischen Raum damals
mehr zur italienischen Hochrenaissance und zum Barock
neigte.318)
Ein wesentlicher Grund für den Erfolg der Deutschen Re-
naissance war die zeitlich mit seiner Entdeckung zusam-
menfallende Gründung des zweiten deutschen Kaiserrei-
ches: „Der deutsch-französische Krieg warf in die verworre-
nen Kunstbestrebungen der Zeit die Flamme der vaterländi-
schen Begeisterung... “ ,319)
Die nationalistische Begeisterung beschwor die nationale
Vergangenheit der Architektur, deren hervorragendste Ex-
ponenten man in den bürgerlichen Bauten der Renaissance
zu finden glaubte. Man schreckte auch nicht zurück, führen-
de Künstlerpersönlichkeiten dieser Epoche wie zum Bei-
spiel Albrecht Dürer, zu einer Art von „Nationalheiligen“
hochzustilisieren320); alles, was mit dem Attribut „deutsch“
bedacht werden konnte, wurde zu einem „sittlichen
Ideal“.321)
Von allen verschiedenen Renaissance-Richtungen wurde
diese Deutsche Renaissance am volkstümlichsten; sie be-
einflußte das Handwerk, unter ihrem Eindruck entstanden
auch viele der Kunstgewerbeschulen, -vereine und -mu-
seen.322) Einen ihrer Höhepunkte erlebte sie 1876 mit der
Ausstellung des Münchner Kunstgewerbevereins im Glas-
palast: dort war eine Abteilung unter dem Titel „Unser Vä-
ter Werke“ eingerichtet, bei der neben anderem Gabriel
Seidls berühmt gewordenes „Deutsches Zimmer“ ausge-
stellt wurde.323)
Erst gegen Ende der achtziger Jahre löste das Neubarock
die Deutsche Renaissance ab. Maßgeblich an dieser Ent-
wicklung beteiligt waren Gurlitts ab 1887 erscheinende
Veröffentlichungen über die Barockarchitektur in Euro-
pa324), vor allem aber die nationalistische Überlegung, daß
große Deutsche wie Friedrich II., Goethe, Leibniz und ande-
re „unmöglich in einem so verworfenen Architekturab-
schnitt gelebt haben können“, wie man bis dahin behauptet
hatte.325)
Gleichzeitig mit dem Neubarock war (vorwiegend im Um-
kreis Ludwig II. von Bayern) auch das Rokoko wieder aufge-
nommen worden, konnte sich aber letztlich in Deutschland
den anderen Stilen gegenüber nicht durchsetzen.
„Unsere raschlebige, stets nach Neuem verlangende Zeit
hat in wenigen Jahren den Vorrat an Kunstformen ver-
braucht, den Jahrhunderte vor uns aufgespeichert hatten.
Wir erleben’s wohl noch, daß man den vielgeschmähten
„Zopf“ allgemein für schön erklärt und daß man dann beim
„Empire“ den ganzen Tanz von Neuem beginnt“.326)
Wie recht der Verfasser dieses Zitates hatte, sollte sich
bald zeigen: in den frühen neunziger Jahren griff man tat-
sächlich auf diese relativ schlichten Stile zurück, gleichzei-
tig mit Empire auf Louis-Seize und dessen deutsche Varian-
te, den Zopf-Stil.327)
Anstelle der geschwungenen Barockformen wurden vorü-
bergehend gerade Linien Mode328), die aber bald schon den
„Linienorgien“ des Jugendstils Platz machten.
Die ersten „Ahnungen“ dieser letztgenannten, neuen
Kunstrichtung waren bereits in den achtziger Jahren be-
merkbar, als sich das Interesse der ostasiatischen Kunst
(vornehmlich den japanischen Holzschnitten) zuwandte.
Etwa zur gleichen Zeit rückte das englische Kunstgewerbe
ins kontinentale Blickfeld: nachdem die europäischen Stil-
reservoirs ausgeschöpft waren, suchte man nach neuen
Vorbildern.329)
Auswirkung von Technik und neuen Baumaterialien auf die
Architektur
Um die Mitte des 19. Jahrhunderts hatte man zwei neue
Baustoffe entdeckt: Eisen und Glas; diese vorher an Bau-
werken nur in geringem Maße verwendeten Materialien wur-
den gerne für neuartige Gebäudegattungen wie Bahnhöfe
und Ausstellungshallen verwendet.330)
Im allgemeinen betrachtete man Kunst und Technik zu-
nächst noch nicht als gleichwertig, obwohl die schon
zu Sempers Zeiten entstandene Definiton „...von Kunst
sprach der an der alten Ästhetik Hängende, von Technik
derjenige, der sich zur neuen praktischen Ästhetik
hielt....“ auch um 1900 als durchaus zeitgemäß gelten
konnte.331)
Zur Jahrhundertmitte standen die Architekten jedenfalls
den ästhetischen Qualitäten der neuen Materialien noch
22
sches Merkmal das „Pathos der Sachlichkeit“ zu307); seine
Feststellung, daß das 19. und 20. Jahrhundert „große Bega-
bungen und Geister“ besaß, die „tiefer und leidenschaft-
licher sind als die führenden Meister des 18. Jahrhun-
derts“308) trifft auf diesen Personenkreis mit Sicherheit in
besonderem Maße zu.
Verwendete Baustile im 19. Jahrhundert
Die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts beherrschte
zweifellos der Klassizismus; den meisten Bauaufgaben
wurde, wie bereits angedeutet, durch einen vorgelagerten
Säulenportikus „eine Art höherer ästhetischer Weihe“
zuteil309), soweit es die Mittel gestatteten und soweit nicht
von Haus aus eine griechische Tempelkopie vorgesehen
war.310)
Gegen solche totale Uniformierung der Baukunst setzte ein
„Pluralismus der Stile“ ein, wie er vorher niemals denkbar
gewesen wäre.311) Zwar hielt sich der Klassizismus in eini-
gen Gebieten Deutschlands, bis er vom Eklektizismus ab-
gelöst wurde, so zum Beispiel in Berlin und damit in Preu-
ßen. In Süddeutschland und Österreich hatte der „Rundbo-
genstil“ den Klassizismus zurückgedrängt312); der für die-
sen Stil besonders maßgebende Architekt Heinrich Hübsch
sprach sich bereits 1829 gegen den „archäologischen Cha-
rakter“ von Gebäuden aus.313)
Ohne großen Erfolg, wie sich bald zeigen sollte; in den Drei-
ßiger Jahren besann man sich auf die „nationalen Überlie-
ferungen“ und entdeckte die Gotik wieder.314) Der Gotik
folgte die Neurenaissance, die sich (in historisch richtigem
Ablauf) in Früh-, Hoch- und Spätrenaissance gliedern sollte,
wobei die Spätrenaissance der Siebziger- und Achtziger
Jahre (wie ihr unmittelbares Vorbild) besonders prunklie-
bend war.315)
Auch der wohl einflußreichste deutsche Architekt des 19.
Jahrhunderts, Gottfried Semper, bediente sich mit Vorliebe
der Renaissanceformen; er schätzte sie sogar höher als die
Formen der Antike.316)
Als „neue“ Stilrichtung kam die „Deutsche Renaissance“
anfangs der Siebziger Jahre in Deutschland zum Durch-
bruch317), während man im österreichischen Raum damals
mehr zur italienischen Hochrenaissance und zum Barock
neigte.318)
Ein wesentlicher Grund für den Erfolg der Deutschen Re-
naissance war die zeitlich mit seiner Entdeckung zusam-
menfallende Gründung des zweiten deutschen Kaiserrei-
ches: „Der deutsch-französische Krieg warf in die verworre-
nen Kunstbestrebungen der Zeit die Flamme der vaterländi-
schen Begeisterung... “ ,319)
Die nationalistische Begeisterung beschwor die nationale
Vergangenheit der Architektur, deren hervorragendste Ex-
ponenten man in den bürgerlichen Bauten der Renaissance
zu finden glaubte. Man schreckte auch nicht zurück, führen-
de Künstlerpersönlichkeiten dieser Epoche wie zum Bei-
spiel Albrecht Dürer, zu einer Art von „Nationalheiligen“
hochzustilisieren320); alles, was mit dem Attribut „deutsch“
bedacht werden konnte, wurde zu einem „sittlichen
Ideal“.321)
Von allen verschiedenen Renaissance-Richtungen wurde
diese Deutsche Renaissance am volkstümlichsten; sie be-
einflußte das Handwerk, unter ihrem Eindruck entstanden
auch viele der Kunstgewerbeschulen, -vereine und -mu-
seen.322) Einen ihrer Höhepunkte erlebte sie 1876 mit der
Ausstellung des Münchner Kunstgewerbevereins im Glas-
palast: dort war eine Abteilung unter dem Titel „Unser Vä-
ter Werke“ eingerichtet, bei der neben anderem Gabriel
Seidls berühmt gewordenes „Deutsches Zimmer“ ausge-
stellt wurde.323)
Erst gegen Ende der achtziger Jahre löste das Neubarock
die Deutsche Renaissance ab. Maßgeblich an dieser Ent-
wicklung beteiligt waren Gurlitts ab 1887 erscheinende
Veröffentlichungen über die Barockarchitektur in Euro-
pa324), vor allem aber die nationalistische Überlegung, daß
große Deutsche wie Friedrich II., Goethe, Leibniz und ande-
re „unmöglich in einem so verworfenen Architekturab-
schnitt gelebt haben können“, wie man bis dahin behauptet
hatte.325)
Gleichzeitig mit dem Neubarock war (vorwiegend im Um-
kreis Ludwig II. von Bayern) auch das Rokoko wieder aufge-
nommen worden, konnte sich aber letztlich in Deutschland
den anderen Stilen gegenüber nicht durchsetzen.
„Unsere raschlebige, stets nach Neuem verlangende Zeit
hat in wenigen Jahren den Vorrat an Kunstformen ver-
braucht, den Jahrhunderte vor uns aufgespeichert hatten.
Wir erleben’s wohl noch, daß man den vielgeschmähten
„Zopf“ allgemein für schön erklärt und daß man dann beim
„Empire“ den ganzen Tanz von Neuem beginnt“.326)
Wie recht der Verfasser dieses Zitates hatte, sollte sich
bald zeigen: in den frühen neunziger Jahren griff man tat-
sächlich auf diese relativ schlichten Stile zurück, gleichzei-
tig mit Empire auf Louis-Seize und dessen deutsche Varian-
te, den Zopf-Stil.327)
Anstelle der geschwungenen Barockformen wurden vorü-
bergehend gerade Linien Mode328), die aber bald schon den
„Linienorgien“ des Jugendstils Platz machten.
Die ersten „Ahnungen“ dieser letztgenannten, neuen
Kunstrichtung waren bereits in den achtziger Jahren be-
merkbar, als sich das Interesse der ostasiatischen Kunst
(vornehmlich den japanischen Holzschnitten) zuwandte.
Etwa zur gleichen Zeit rückte das englische Kunstgewerbe
ins kontinentale Blickfeld: nachdem die europäischen Stil-
reservoirs ausgeschöpft waren, suchte man nach neuen
Vorbildern.329)
Auswirkung von Technik und neuen Baumaterialien auf die
Architektur
Um die Mitte des 19. Jahrhunderts hatte man zwei neue
Baustoffe entdeckt: Eisen und Glas; diese vorher an Bau-
werken nur in geringem Maße verwendeten Materialien wur-
den gerne für neuartige Gebäudegattungen wie Bahnhöfe
und Ausstellungshallen verwendet.330)
Im allgemeinen betrachtete man Kunst und Technik zu-
nächst noch nicht als gleichwertig, obwohl die schon
zu Sempers Zeiten entstandene Definiton „...von Kunst
sprach der an der alten Ästhetik Hängende, von Technik
derjenige, der sich zur neuen praktischen Ästhetik
hielt....“ auch um 1900 als durchaus zeitgemäß gelten
konnte.331)
Zur Jahrhundertmitte standen die Architekten jedenfalls
den ästhetischen Qualitäten der neuen Materialien noch
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