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Architektonische Rundschau: Skizzenblätter aus allen Gebieten der Baukunst — 21.1905

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Heft 12
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Pfeifer, Hermann: Stimmungswerte der Dachformen
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https://doi.org/10.11588/diglit.44852#0100

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1905

ARCHITEKTONISCHE RUNDSCHAU

Heft 12

welches meist
höher als die senk-
rechte Wand ist,
daß wir einem
Landhause am be-
sten den Charakter
des »Ländlichen«
verleihen können,
indem wir ihm ein
hohes Dach auf-
setzen.
So wohnt dem
Dache eine hohe
ästhetische Bedeu¬
tung inne; es wurde deshalb von fast allen stilbildenden Völkern
als wesentlicher Teil des Gebäudes ästhetisch vervollkommnet.
Wir dürfen das Dach nicht als notwendiges Übel ansehen,
sondern müssen es als ein wirkungsvolles Kontrastmittel mög-
lichst organisch mit in die gesamte architektonische Kompo-
sition hereinziehen. Eine gute, gediegene Dachbildung kommt
der Monumentalität eines Baues besser zu statten, als die
Überhäufung der Wandflächen mit sogenannten Schmuckformen;
bei der Verteilung der für den Schmuck bestimmten Baumittel
ist also die Dachform mit in erste Linie zu stellen.
Man vergegenwärtige sich die mächtige, zusammenfassende
Kraft, welche in dem einheitlichen
großen Satteldach des griechischen
Tempels steckt — gediegenste Aus-
führung in Marmor und Belebung der
Dachfläche mit Falz- und Decksteinen,
Akroterien etc. Man denke ferner an
das mächtige schützende Giebeldach
des Tiroler Hauses, welches die Wohn-
räume, Erker, Galerieen und sogar die
Stallungen und Scheunen zusammen
unter einen Hut bringt; vergl. das Ram-
mingerhaus in Jenbach, Abb. 1. Dann
die stolzen Giebeldächer der alten Nürn-
berger Patrizierhäuser und Landschlö߬
chen ! Solche gewaltige Dachmasse als Hauptsache kann schon
allerhand sich anschmiegende und unterordnende Zutaten von
Dacherkern, Luken und Türmchen vertragen, ohne davon er-
drückt zu werden oder eine Einbuße an ihrer monumentalen
zusammenfassenden Kraft zu erleiden; vergl. Abb. 3.
Ohne diese feste Rücklage, ohne diesen ruhigen Hinter-
grund zerfallen die vielen Aufbauten, wie wir sie an vielen
neueren Bauten mit flachem Hauptdach sehen, in ein zappeliges
Durcheinander von kleinlichen Gegensätzen. Wo jede Einzelheit
sprechen und keine sich unterordnen will, kommt keine zu Wort!
Die meisten »Villen« unsrer Zeit leiden an einem zu un-
ruhigen »malerischen« Grundriß und deshalb an kleinlichen
Dachlösungen. Man hat es verlernt, die mannigfaltigen Er-
fordernisse in ein einfaches Wohnhaus zusammenzufassen.
Welcher Architekt und welcher Bauherr hätte in unsren Tagen
den Mut, eine so gewaltige ungegliederte Dachmasse auf seinen
Bau zu setzen, wie das die ganze Stadt hoch überragende
Satteldach der Münchener Frauenkirche — 58 m Firsthöhe

Durch Einheitlichkeit der
Dachbildung können die ver¬
schiedenen Teile eines Bau¬
werkes harmonisch zusam¬
mengestimmt werden, indem
entweder alle Teile ein steiles
Dach erhalten (Abb. 5a) wie
in Deutschland, Nordfrank¬
reich u. s. w., oder indem alle
Teile ein flaches Dach erhalten
(Abb. 5 b), wie in Italien, Süd¬
tirol, Spanien. Oder aber man
gibt allen Bauteilen nur eine
wagrechte Decke ohne Dach
(Süditalien, Orient).
Das deutsche Dach und das italienische Dach sind grund-
verschieden in ihrer Konstruktion und in dem Gesamteindruck,
den sie hervorrufen; deshalb sind Verquickungen beider mög-
lichst zu vermeiden! Der Italiener wird kaum ein volles Ver-
ständnis besitzen können für den reichen poetischen Gehalt,
für die gemütvolle, anheimelnde Stimmung, welche unser steiles
Dach auf uns Deutsche ausübt mit all seinen lebendigen
kleinen Reizen, mit den malerischen Zutaten der inneren Not-
wendigkeit des bewohnten Hauses, den rauchenden Schorn-
steinen, den traulich blickenden Dachluken und Giebeln,
welche uns so viel zu erzählen wissen
vom deutschen Heim. Albrecht Dürer
hat die Seele des deutschen Daches in
den Hintergründen seiner Bilder und
Radierungen getroffen wie kein Zweiter
(Abb. 6). Ein Erbfehler des Deutschen
freilich ist es, daß er so leicht fremd-
ländisches Wesen höher einschätzt, weil
das Heimische ja »nicht weit her« ist.
Wem aber das Heimatsgefühl nicht ab-
handen gekommen ist, dem werden die
trautenKlänge der eigenenMuttersprache
doch am tiefsten zu Herzen dringen.
So liebt der Italiener mit derselben
Berechtigung sein italienisches flaches Dach,derTiroler seinestein-
beschwerten Schindeln, der Nomade sein mit ihm wanderndes Zelt.
Diese Unterschiede der subjektiven Empfindung müßten
wohl im Zusammenhänge mit den praktischen Bedürfnissen,
klimatischen Verhältnissen und ererbten Konstruktionsarten die
Grundlage einer umfassenden praktischen Ästhetik des Daches
bilden, welche dem ausführenden Architekten wirklichen Nutzen
bringen könnte. Die interessanten Formen des chinesischen,
japanischen, indischen Daches etc. nicht zu vergessen!
Sehr lehrreich ist der Übergang und die Mischung des
Geschmackes von Italien und Deutschland in Südtirol (Abb. 7).
Man beachte den mächtigen Einfluß, welchen das hohe
Giebeldach in der deutschen Renaissance auf die Umbildung
der antiken Säulen- und Gebälkformen und deren Anpassung
an die landesübliche Bauweise ausübte.
Der Stimmungswert des Daches wird besonders augen-
fällig, wenn wir einem deutschen Bauwerke sein hohes Dach
abnehmen und dafür ein flaches Dach aufsetzen: es verliert


(6) Hintergrund auf A. Dürers Kupferstich »Der verlorene Sohn«.



und doch bildet gerade diese schlichte, wuchtige Dachform im
Verein mit den beiden Frauentürmen, den köstlichen Wahr-
zeichen Münchens, die wirkungsvollste Gruppierung und den

sofort seine heimische Eigenart, es spricht gleich eine fremde
Sprache. In der hier skizzierten »italienischen Übersetzung«
des Schlößchens Gohlis bei Leipzig (Abb. 8 a und b) ist die


festen Kernpunkt im
ganzen Stadtbild.

bewohnbare Mansarde in ein volles Wohngeschoß mit senk-
rechten Mauern und flachem Dach verwandelt, wodurch der


(5) a Alle Teile erhalten ein steiles Dach.
(Deutschland, Nordfrankreich . . .)

b Alle Teile erhalten ein flaches Dach.
(Italien, Südtirol, Spanien . . .)

c Alle Teile erhalten ein horizontales Dach.
(Süditalien, Orient . . .)

90.

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