10. Kežmarok, Evangelische Kirche/1898.
Oberflächen der neuzeitlichen Bauwerke des 19. Jh.
aus romantischer Spekulativität — und nicht nur
aus dieser — angewendet wurden, hat jedenfalls
verdient, global und aktuell als „Pseudohistoris-
mus“ bezeichnet zu werden.
Die pseuhistorischen Richtungen - von einem
komplexen künstlerischen Stil im üblichen Sinne
des Wortes kann hier vorderhand nicht gesprochen
werden — entsprachen in einem gewissen Masse
der Lebensattitude des neuen Architekten des 19.
Jh. und sie entsprachen auch seinen baulichen
Aufgaben: die neuen wirtschaftlichen und gesell-
schaftlichen Beziehungen erforderten den Bau
von Geldinstituten, administrativen Gebäuden,
Redouten, Galerien, städtischer Wohnhäuser; es
mussten Rathäuser, Gemeindehäuser, usw. gebaut
werden; im Grunde genommen waren es also
Aufgaben, gleich denjenigen, die zur Zeit des Sieges
der Bourgeoisie in der italienischen Renaissance
für den Architekten erstanden sind. Die neue
Lebensart des 19. Jh. erschloss der Öffentlichkeit
Theater, Kasinos, Restaurants, Kaffeehäuser und
andere Gesellschaftsräume; überall hier hat sich
die Pseudorenaissance als eine adéquate repräsen-
tative Richtung erwiesen. Die herrschende Klasse
wünschte, dass ihr wachsender Reichtum auch
in der Architektur zum Ausdruck kommen soll,
sie wollte eine Symbolisierung ihrer wirtschaftli-
chen und politischen Siege sehen; dadurch wieder
holte sich in einer verkürzten Zeit, in ungefähr
30 Jahren gegen Ende des 19. Jh., also vor den
Augen einer Generation, eine eigentlich hundert-
jährige Stilentwicklung: von der Frührenaissance
über die Nachahmung ihrer Kulminationsperiode
bis zu den schweren dekorativen pseudobarocken
und zu den feinen pseudorokoko-Details. Der
pseudohistorischen Architektur kam allmählich
eine weitere Aufgabe zu, u. zw. sollte sie den
Neureich-Charakter der zeitgenössischen Investo-
renkreise des 19. Jh. verdecken und als materielles
Argument bei der Vorspiegelung traditioneller
Rechte und des alteingesessenen Ursprungs der
neuen herrschenden Schichten dienen; somit haben
die Pseudostile der Architektur dazu verholten,
die Stabilität und die historische Verbundenheit
in der Position der herrschenden Klasse vorzu-
stellen.
Eine weitere Strömung des romantischen histo-
risierenden Strebens, die ihren Ursprung in Re-
liquien der mittelalterlichen feudalen Kunst hatte,
war das Wiederaufleben gotischer und romanischer
architektonischer Formen; diese Strömung kam
hauptsächlich in der sakralen Architektur zur
Geltung. Das Studium der Vergangenheit und die
Gründlichkeit der an mittelalterlichen Kirchen
durchgeführten Rekonstruktionsarbeiten führten
zu einer tieferen Erkenntnis der Gotik, und dies
insbesondere in den europäischen Ländern, in
welchen die gotische Architektur gleichzeitig einen
Gedenkstein bedeutender Perioden der nationalen
Geschichte darstellte; aus England und Frankreich
gelangten über Deutschland nach Österreich so-
wohl die romantische Bewunderung kühner Kon-
struktionen der mittelalterlichen sakralen Archi-
tektur als auch die Vorliebe zur „geistgewordenen“
Gotik; nachdem es im 19. Jh. weder zu einer
Veränderung in den an den kirchlichen Architekten
gestellten funktionellen Anforderungen noch in
seinen dispositionellen Notwendigkeiten gekom-
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