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Zur Stuttgarter Weißenhofsiedtung

!. Das Ziet
Die Neue Baukunst ist — soweit ihre besten Äußerungen in Frage
kommen in dem Streben nach einer neuen Wohnart, weiterhin
nach sinngemäßer Verwendung neuer Materialien und neuer Kon-
struktionen begründet: nicht aber in dem Willen zu neuer Form.
„Soweit ihre besten Äußerungen in Betracht kommen"; denn offen-
bar hat sich die Mitläuferschar gerade auf bestechende Formalismen
verlegt, ohne zur Umbildung des Kerns weder in räumlicher, noch in
konstruktiver Beziehung auch nur das geringste beizutragen.
Dies sei darum immer wieder betont, weil selbstverständlich die
ungewohnte Form zuerst in die Augen springt, und der Kampf gegen
neue Bestrebungen in der Baukunst sich daher stets in erster Linie
gegen die äußere Erscheinung richtet.
Würden die Gegner auf die Klärung der Frage einer neuen Wohn*
form und einer sinnvollen, wesengemäßen Konstruktion ausgehen:
der Kampf wäre fruchtbarer.
Es kann nicht bestritten werden, daß im Laufe der Jahrzehnte die
Lebensart nicht nur einer intelektuellen Elite, sondern in Ansätzen
auch bereits die der großen Masse (insbesondere der jüngeren
Generation) weitgehende Wandlungen erfahren hat. Schon die sinn-
fälligsten Faktoren: gesteigerter Sinn für Luft, Farbe und Mechanik,
Drang zu sportlicher Betätigung, soziale Umschichtung, wirtschaft-
liche Nöte müssen auf die Dauer unleugbar zu starken Umbildungen
des Wohnwesens führen. Indessen: klare neue Wohnformen konnten
sich bis heute noch nicht herausbilden; selbstverständlich nicht, da
ja die Umbildungen selbst noch in voller Bewegung sind. Der neuen
Generation erscheint zwar die seit Jahrhunderten gebräuchliche Woh-
nung bis zur Unerträglichkeit falsch angemessen, aber eine deutliche
Vorstellung auch nur ihrer Wünsche, eine nur leidlich eindeutige
Willensrichtung fehlt noch absolut. Was schlimmer ist: sie fehlt auch
der Mehrzahl der modernen Architekten. Nur wenige besitzen hierzu
ein genügendes Maß von Offenheit, Freiheit und visionärer Kraft
dem Rest kann es im gegenwärtigen, entscheidenden Moment nur zur
Mitläuferschaft langen.
Frank Lloyd Wright hatte schon vor 20 Jahren die nötigen Quali-
täten. Er wußte einen Weg zum Neuen Wohnen. Aber seine Ameri-
kaner sind ihm bis heute nicht willig gefolgt, er muß noch 10 Jahre
Geduld haben.
Auch die Vorkämpfer in Europa sehen, daß sie noch Geduld haben
müssen (wären nur nicht die Mitläufer, die zugleich zumeist die
fatalsten Schnelläufer sind). Selbstredend: eine Wohnkultur kann,
nicht erzwungen werden. Aber ist sich die Masse der Bevölkerung
über die Richtung ihres Wohnwillens gegenwärtig noch nicht klar,
so kann man doch wohl ihre Sinne schärfen, Vorurteile lösen, In-
stinkte wecken und die Regungen sorgfältig beobachten.
Vielleicht weiß die neue Generation nur darum nicht, wie sie wohnen
will, weil sie die Möglichkeiten gar nicht ahnt. Also zeige man ihr die
neuen technischen Voraussetzungen des Wohnungsbaus, man mache

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