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«cst

JUnstvivte Farnilierr-Deitnrrg.

Zahrg. 1893.



Der Talisman.

NUS Westnordwest

durch einen weiten Ueberrock nut emporgeschlagenem
Kragen, ließ sich nur, wenn das Mondlicht ihn voll
tras, unterscheiden, daß er in jugendlichem Alter stand,
und daß langes Gelock, nach damaliger Sitte vieler
Musensöhne, unter der tief über die Stirn gezogenen
Mütze hervor sein Haupt umflatterte. Ein schwerer
Ziegenhainer rind eine auf die Hüfte niederhängende,
straff gefüllte Ledertasche bildeten seine Reiseausrüstung.
Es war bereits gegen zehn Uhr, und eine Stunde
Weges lag noch vor ihm. Er verrieth indessen, trotz
des ihr: durchschanernden eisigen Oktobcrsturmes und

des ihn zuweilen scharf treffenden Sprühregens, keine
Eile. Gelegentlich blieb er sogar stehen, und dem
Wetter sich entgegenkehrend, überwachte er bewundernd
den wüthendcn Kampf der Elemente. Eben im Begriff,
sich abermals in das Anschauen einer Naturscene zu
versenken, wie sie ihm vielleicht nicht zum zweiten Male
in seinem Leben geboten wurde, fesselte in geringer
Entfernung von ihm eine unbestimmte Bewegung seine
Aufmerksamkeit. Schärfer hinüberspähend, trennte sich
für seine Augen von dem den Pfad begrenzenden Ge-
strüpp eine kleine,

Auf einein Strandpfade, der hoch
genug lag, um nur gelegentlich von
zerstäubendem Sprühwasser befeuch-
tet zu werden, schritt ein einsamer
Wanderer rüstig einher. Geschützt

Im Arm der Kerrin. Rach einem Gemälde von Tito Conti. (S. 7)

schmächtige Gestalt, die ihm eilenden
Laufes entgegen stürmte. Der Mond
spendete gerade sein volles Licht.
Er erkannte daher ein Kind, ein
etwa neunjähriges Mädchen, welches
bei seinem Anblick in freudigen:
Schreck die Arme emporwarf und
mit dem feinen Sümmchen das To-
sen der Brandung zu überschreien
trachtete.
„Junger Herr, cs ist zu schreck-
lich!" rief es aus, mit aller Macht
gegen den heftigen Luftdruck kämpfend,
und vor dein jungen Mann einge
troffen, fuhr es sich überstürzend fort:
„Da weiter oben liegt ein Ertrunke-
ner, aber er lebt noch etwas — die
Mutter blieb bei ihm — sie schickte
mich fort. Ich soll in's Dorf lau-
fen, und dem Schulzen melden, er
möchte einen Wagen und Leute
schicken. Auch sollte ich Jeden, dem
ich begegnete, bitten, schnell, aber
recht schnell zu ihr zu kommen. Bricht
das Wasser wieder auf die Ab-
flachung herein, so ist die Blutter
nicht stark genug, den Ertrunkenen
festzuhalten."
„Gnt, mein liebes Evchcn," ver-
setzte der junge Mann lebhaft, wäh-
rend er des Kindes beide Hände
hielt, „Deine Mutter soll nicht lange
auf mich warten. Zuvor aber höre
meinen Rath: Du bist schon erhitzt;
mäßige daher Deine Eile und bleibe
unterwegs nicht stehen. Bei Deiner
Athemlosigkeit möchte der kalte Wind
Dir gefährlich werden. Ein schlech-
ter Lohn wäre es für die Barmher-
zigkeit Deiner Mutter, würdest Du
krank. Und jetzt fort!"
„Ich will, ich null —" hieß es
über die Schulter zurück, und dahin
flog das schlanke Figürchen in den
flatternden Gewändern mit einer Eile,
die am wenigsten dafür zeugte, daß
der wohlgemeinte Rath auf empfäng-
lichen Boden gefallen war.
Auch der junge Mann hatte sich
wieder in Bewegung gesetzt. Hastig
einhcrschreitend, näherte er sich nach
wenigen Minuten der bekannten
Stelle. Schon bevor er sie erreichte,

Erstes Kapitel",
eit Tagen wehte es
heftig aus die deutsche
Küste ein. Das Meer
immer tiefer aufwüh-
lend, steigerte der Wind
sich endlich zum Orkan.
Höher schwollen die
Fluthen unter dem un¬
widerstehlichen Andrange neuer Was-
sermassen. Bedrohlicher wuchsen die
schäumenden Seen im erbitterten
Kampfe mit der gehemmten Rück-
strömung empor. Vernichtend wälz-
ten sie sich auf die nachgiebigen
Dünen ein. Hier überflutheten sie
heimtückisch Niederungen; dort bran-
deten sie wüthend an hochragenden
Strandufern oder zwischen festge-
wurzelten hundertjährigen Baum-
stämmen. Das Meer schien ein
Meer gebären, die in der Urzeit
von ihn: bedeckten deutschen Gaue
wieder an sich reißen, abermals seine
Schaumgarben nach den Abhängen
ferner Gebirgszüge hinanfsendcn zu
wollen.
Es nurr ein furchtbares Ringen.
Die in der "Nachbarschaft hausenden
Menschen zitterten. In den Herzen
lebten Gebete für die Schiffe, die
dein rasenden Element preisgeqeben
waren. Wehe dem Fahrzeug, das,
von der Flnth gepackt, bis dahin
trieb, wo eine Umkehr unmöglich!
Am nächtlichen Himmel wechsel-
ten wild cinherjagende schwarze Wol-
kengebilde mit größeren und kleineren
Lichtfeldern. Aehnlich verfolgten sich
gegenseitig Schatten und Licht auf
dem Meere landwärts. Kaum ver-
hüllt, entwand der volle Mond sich
immer wieder den schweren Dunst-
schleiern. Gleichmüthig betrachtete er
die unheimlich tosende See. Was er
auf der wüsten, nngeberdigen Was-
serfläche entdeckte, das blieb sein Ge-
heimnis;.

Roman
von
Balduin Möllhausen.
- (Nachdruck verboten.)

Photographie im Verlag der „Reproduction" in Berlin.
 
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