Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
126

zu unseren Nachmittagen, wenn Sie unserer Unter-
haltung so fern bleiben! Kommen Sie, Doktor —
spielen Sie mit uns!"
Aber er war nicht zu bewegen. Er schüttelte ernst
den Kopf und meinte: „Auch das Spielen muß man
gelernt haben!"
„Ja, waren Sie denn nicht auch einmal jung?"
„Wer weiß — vielleicht nicht! Wenigstens hat's
nicht lange angehalten."
„Merkwürdig! Und ich glaubte immer, die Jugend
hätten Alle gemein miteinander! Jungsein, meinte ich,
heiße glücklich sein!"
„Das ist ein schöner Jrrthum, mein liebes Fräu-
lein," sagte er ruhig. „Ainu kann auch in der Jugend
schon den Ernst des Lebens kennen lernen. Armuth,
Noth, Sorge, Familienunglück verschonen auch die
Kindesseele nicht."
Und er sah sie an mit einem Blick, der ihr sagen
sollte, wie traurig es sei, so ernst zu sein.
Henrika aber fühlte sich auch heute wieder merk-
würdig berührt von seiner Art. Wie schon so häufig,
dachte sie auch heute: wie glücklich muß die Frau sein,
die ihn einst heiter machen wird. Ja, das wäre eine
schöne Aufgabe! Und ihr sagte eine geheime Stimme,
daß es für sie nicht unmöglich sei, diese Aufgabe zu
lösen. Sie hatte so oft ein Aufleuchten gesehen in
seinen: ernsten Antlitz. Es war fast, als ob sich diese
Züge belebten, verjüngten, wenn er ihr nahe war.
Frauen sehen das — sie erkennen es mit unfehlbarer
Sicherheit. Hätte Henrika sich sonst heute vor aller
Welt verrathen, wenn sie ihrer Sache nicht sicher ge-
wesen untre? Mochten sic eS wissen: ihr gefiel vor
Allen Doktor Hartweiler! Gewiß, sie hatte es eben aus
seinem eigenen Munde gehört, er war nicht mehr jung!
Aber sie würde ihm die Jugend wiedergeben, wenn er
nur wollte! —
Er verkehrte im Hause des Professors, ihres Paters,
seit dieser ihn zu seinem Assistenten gemacht hatte.
Man hatte sich schon daran gewöhnt, daß er sich abseits
hielt. Und nach und nach gewöhnte sich auch Henrika
daran. Sie sah es doch immer deutlicher: sie war ihm
nicht gleichgiltig. Aber er sprach nicht - sprach nicht!
Der Professor hätte den Schwiegersohn gewiß gern ge-
sehen, ließ es auch merken. Doktor Hartweiler schien
von alledem nichts gewahr zu werden.
Eines Abends saß man am traulichen Theetisch. Um
diese Zeit pflegte der Professor von allein Änderen,
nur nicht von Berufsfragen zu sprechen. Liebevolle
Rücksichtnahme auf seine Frau, auf Henrika und deren
jüngeren Bruder bestimmten ihn, sich mit hundert, sonst
gleichgiltigen Tagesangelegenheiten zu befassen. „Hier
bin ich nur Familienvater," pflegte er zu sagen, „hier
brauchen wir glücklicherweise keinen Arzt." Und er zeigte
ebensoviel Theilnahme für das neue Warmhäuschen,
welches sich seine Gattin eben angelegt hatte, wie für
die Stickerei seiner Tochter oder den nächsten Schul-
ausflug des Primaners Bruno. Wer immer ein An-
liegen, eine Frage an den Hausherrn hatte, der wartete
diese gemüthliche Stunde ab, um auf seine Rechnung
zu kommen.
Doktor Hartweiler war heute förmlich aufgethaut.
„Wie reizend ist doch solch' ein häuslicher Kreis,"
sagte er fast begeistert. „Ich liebe große Gesellschaften
nicht, gehöre auch wohl nicht hinein, das aber untre für
mich das erstrebenswertheste Ziel!"
„Sie werden heirathen, mein Lieber," meinte der
Professor wohlwollend.
Es leuchtete seltsam auf in den Blicken Hartweiler's,
die auf Henrika ruhten. Aber nur für eine Sekunde ,
dann rang es sich ernst und schwer von seinen Lippen:
„Ich kann so leicht nicht heirathen, Herr Professor,
denn — ich habe drei Kinder zu versorgen!"
Der Professor stieß hastig den Dampf seiner Ei
garre aus und sah den Doktor mit ungläubigem Er-
staunen an.
„Sie scherzen!"
„O nein, ich scherze nicht!" Und tief aufathmend
erzählte er: „Wir waren sieben Kinder - - die sprich
wörtliche Zahl bei armen Leuten. Der Pater ein Hand-
werker — ja, wirklich nichts als ein kleiner Handwerker.
Und im Hause waren Noth und Jammer das Alltäg-
liche. Nur zwei von uns hatten den Muth, über das
Elend hinauszustreben: meine schöne Schwester und ich.
Um kurz zu sein: ich lernte fleißig, mein Schulvorsteher
wandte mir Stipendien, Nachhilfestunden und andere
Vergünstigungen zu, er meinte, in mir stecke ein künf-
tiger Professor . . ."
„Sehen Sie, mein Lieber," unterbrach ihn der Wirth
jovial, „eS hat zu allen Zeiten wirkliche Propheten ge-
geben!"
„Ja, ja, es sieht ja aus, als sollte ich's erreichen,"
fuhr Hartweiler fort, „aber wenn ich Ihnen erzählen
sollte — wie! Nun, ich bin ja schließlich durchgekommen,
wie oft ich auch daran verzweifelte! Meine Schwester
Julie aber, die konnte nicht studiren! Und sie wollte doch
auch etwas Besseres werden, als die Anderen, die sich
als Dienstmädchen, als Näherinnen mühselig ihr Brod
verdienten. Sie schloß sich eng an mich an, naschte von

Das Buch f ü r All e.
meinem Wissen, lernte wohl auch, sich für das Große
uud Schöne in Kunst und Literatur Hegeistern, während
ich immer neue Mittel fand, ihre reizenden Goldstickereien
zu erträglichen Preisen an den Mann zu bringen. Ja¬
wohl, Fräulein Henrika, ich bin mit diesen Arbeiten fast
hausiren gegangen. Und Abends, wenn ich ihr den Er-
lös zusteckte, hatte ich wohl auch noch ein Konzertbillet
für sie. Das ist denn auch ihr Unglück geworden!
Sie verliebte sich in einen Musiker, heirathete deu zwar
begabten, aber nicht eben charakterfesten Mann, und nach
einigen Jahren elender Alltagssorge starb sie bei der Ge-
burt des dritten Kindes. Da stand nun mein Schivager
mit drei unerzogenen Würmern, die ihm die Ohren voll-
kreischten, ihm das Studiren daheim in der engen
Wohnung verleideten und ihn hinaustrieben in die
Kneipe! Er verlor bald jeden Halt, begann zu trinken,
verlotterte, fand kein Brod mehr und ging eines Tages
nach Amerika. Seine drei Kinder ließ er hilflos zurück.
Was sollte nun aus ihnen werden? Sollte ich sie in's
Waisenhaus bringen? Nein, das ging nicht an, dazu
hatte ich die Julie zu sehr geliebt. Und ich übernahm
die Pormundschaft. Ich war damals eben versuchsweise
am Elisabeth-Krankenhause angestellt worden, verdiente
schoir etwas mehr, als ich nothdürftig brauchte und
nahm mir vor, für die Kleinen zu sorgen. Das habe
ich denn auch gethau. Daraus geht Alles auf, was ich
einnehme. Die Kinder sind nun schon seit Jahr und
Tag in Kost; aber so geht's nicht weiter. Sie brauchen
Heuteschon mehr, als satt zu essen, und auch das allein
stellt sich zu theuer für mich. Ich will sie zu mir
nehmen. Das älteste Mädchen sie heißt Julchen,
wie meine Schwester - bedarf nicht allein der körper-
lichen Pflege - sie muß erzogen werden! Und damit
will ich nun Ernst machen. Ich habe schon eine Wohnung
gemiethet. Freilich - Mühe und Plage werde ich
in Hülle und Fülle haben. Werde mir auch eine
fremde Person, eine Wirthschafterin oder dergleichen
in's Haus nehmen müssen. . . . Aber sagen Sie selbst,
Fräulein Henrika, wer würde den Mann mit den drei
Kindern heirathen wollen?"
Er sah sie forschend an — er hatte ihr in seiner
Weise die große Frage seines Lebens gestellt.
Sie tonnte nur stammelnd Antwort geben. „Aller-
dings, Herr Doktor, eine große Aufgabe!" Sie war zu
sehr erschrocken — ganz verwirrt, rathloS. „Freilich,
eine große Aufgabe," wiederholte sie, „und so ernst, daß
sie Einen: die ganze Jugend rauben kann."
Und er versetzte nut "Nachdruck: „Ich fürchte, das
ist bei mir der Fall gewesen!"
Der Professor war nicht nur ein guter Pater, son-
dern: auch ein Mann von zugleich feinen: und gesundem
Empfinden. Er begriff genau, was hier vorging; er
hatte es ii: einen: gewissen Vibriren in: Tone Hart
weiler's längst erkannt, und ein einziger Blick ans seine
Gattin genügte, ihn zu überzeugen:, daß auch sie die
leise Werbung gehört. So hatten die beiden Alten wie
mechanisch nach den: Spiel Karten gegriffen, das noch
auf den: Tische lag - Bruno hatte sich vorher nut
einen: neuen Kartenkunststück produzirt - und nun
spielten die Eltern mit einer Leidenschaft Pignet, als
gäbe es nichts Ernsteres auf der Welt. Bruno war
schon auf seinen: Zimmer. Die jungen Leute saßen neben-
einander — fast allein.
Doktor Hartweiler hatte Henrika's Hand ergriffen
und flüsterte: „Ich liebe Sie, Henrika, aber ich habe
entsagt — der Kinder wegen!"
Ein heißer, schmerzerfüllter Blick, ein leidenschaft-
licher Händedruck begleiteten diese Worte.
Doktor Hartweiler war doch noch jung. —
Nun war er gegangen. Der Professor und seine
Frau spielten noch immer Piguet; mochte das Kind
zu ihueu kommen.
Aber Henrika kam nicht. Sic wünschte den Eltern
gute Nacht und ging.
Schlaflose Stunden folgten für sie. Nein, es war
doch zu schrecklich, die drei Kinder! Und wie lächer-
lich — nicht einmal die seinen. Ein abstoßender Ge-
danke! Immer nur Sorge, strenge Pflichterfüllung und
Ernst. Und sie war doch hübsch und jung und hatte
ein Anrecht an's Leben. Freilich — sei:: Edelmut!)
war großartig; aber das ging denn doch zu weit; diese
drei Kinder konnte man keiner Frau zumuthen! —
Eines Tages waren die drei Kinder da. Er selber
hatte ihr'S gesagt, sie seien heute ans der Pension an-
gekommen. Merkwürdig, daß sie noch immer nicht nut
sich klar war — sehr merkwürdig! Ja, eines Vormit-
tags, als sie den Doktor Hartweiler auf der Klinik
wußte, kam ihr ganz ernstlich der Gedanke, sich die drei
Kinder einmal nnzusehen. Zwar, sie kämpfte noch nut
sich, aber nur schwach, dem: ihr Freund war zu erust
geworden in der letzten Zeit.
Ein Vorwand war bald gefunden; sie begleitete
ihren Bruder, der den: Doktor einige Bücher zurück-
zubringen hatte. Die Wirthschafterin öffnete ihr, eine
dicke, gleichgiltige Frau, die schon au der Thür darauf
hinwies, daß der Doktor um diese Zeit nicht zu sprechen
sei. Erst nach einigem Parlamentären ließ sie sich her-
bei, die Kinder in's Zimmer zu rufen.

Hrst 5.
Da waren sie nun. Ein sehr niedliches kleines
Mädchen, sieben bis acht Jahre alt, lebhaft und drollig,
und zwei kleinere, recht schmutzige Jungen.
„Kennst Du den Onkel auch?" fragte der ältere
Knabe Henrika. — „Der Onkel ist jetzt beim Kurilen,"
meinte Julchen altklug, „aber wenn er nach Hause
kommt, dann spielt er nut uns!" — „O gewiß," er-
gänzte der erste Wortführer, „dann bringt uns der
Onkel Kuchen!"
Und das Kleinste von den Dreie:: lallte nur:
„Ont'l — Tuchen!"
„Der arme, arme Onkel," sagte sich Henrika. „Es
ist unmöglich, ihn zu heirathen! Wie schrecklich alt er-
scheint er mir als Onkel! Aber er hat auch kein besseres
Loos verdient. Wie kann inan gar nicht den Versuch
machen, glücklich zu werden! Der ist als Onkel geboren!"
Und sie verlobte sich noch in derselben Woche mit
dem Rittmeister a. D., der zwar durchaus nicht mehr-
jung war, aber doch den Ehrgeiz hatte, es scheinen zu
wollen.
Es war weder eine glückliche, noch eine ganz unglück-
liche Ehe geworden. Ter Rittmeister a. D. war galant
und aufmerksam gegen seine Frau, er ließ es weder an
Geschenken noch an Toiletten fehlen. Sie war, wie
inan zu sagen pflegt, „gnt versorgt"; ihren Mann liebte
sie nicht, aber sie hatte nichts gegei: ihn — er war ja
in: Grunde „ganz nett".
Sie hatten Henrika's Heimathsort verlassen und sich
in: Süden niedergelassen, weil ein älteres Brustleiden
des Rittmeisters sich zu entwickeln begann. Trotzdem
verliefen der jungen Fran die ersten Jahre recht heiter.
Man lebte in einer reizenden Villa in Meran, hatte an-
genehmen Verkehr, nahm eine gesellschaftliche Stellung
ein. Dazu kam, daß der Rittmeister seiner jungen,
schönen Frau große Freiheit ließ, daß er harmlose
Kurmacherei duldete — kurz, es war Alles „ganz nett".
Später aber wurde die Sache trauriger, denn die Krank-
heit hatte sich nunmehr zu einer regelrechten Lungen-
schwindsucht ausgewachsen. "Nach und nach wurden Ver-
gnügungen unmöglich. Er schleppte sich von einen:
Kurort zum anderen. Er war ein liebenswürdiger
Kranker, aber doch ein Kranker; sie eine zwar elegante,
wohlhabende Frau, aber doch eine Krankenpflegerin.
So verging Jahr um Jahr, trotz aller Abwechslung
in ödem, grauem Einerlei. Immer nur Schonung und
Rücksicht für den Kranken; immer nur Verzichten und
Entsagen für die aufblühende junge Frau. In: zehnten
Jahre starb der Rittmeister an einen: Blutsturz.
Henrika war mit dreißig Jahren eine hübsche, reiche
Wittwe.
Nachdem jener Schmerz vorüber, den der Tod eines
Nahestehenden immer verursacht, empfand Henrika neue
Lebenslust. Sie war mit ihrer Mutter, die zuletzt zu
ihr gekommen, noch bis zum Frühling an der Riviera
geblieben. Die Aerzte hatten der etwas Angegriffenen
den Klimawechsel mitten im Winter widerrathen. Im
Mai kehrte Henrika zurück in's Elternhaus, in die
deutsche Heimath. Während sie tagelang durch die
Frühlingsfluren fuhr, wurde sie von neuer Lebenslust
erfaßt. Noch war sie jung und begehrenswert!). Sie
konnte noch glücklich werden, durfte es auch, denn sie
hatte ihre Pflicht gethau.
Bisweilen hatte sie brieflich nach Doktor Hartweiler
gefragt; dann antwortete man ihr, daß er der Er-
ziehung seiner Kinder lebe.
Sie war mehrere Jahre nicht zu Hause gewesen.
Bruno hatte inzwischen sein Doktorexamen gemacht; auch
er war Arzt geworden, wie der Vater. Die ganze
Familie wollte die Ankommenden auf dem Bahnhof in
Empfang nehmen. Während nun Henrika mit einer
Art stolzer Freude ihren vollends zum Manne gewow
denen Bruder erkannte, bemerkte sie an seiner Seite ein
reizendes junges Mädchen mit schelmischem Gesicht und
lachenden Augen, das sich offenbar große Mühe geben
mußte, der feierlichen Begegnung den gehörigen Ernst
entgegenzubringcn.
Und als sie Pater und Bruder begrüßt hatte, meinte
der Professor mit einen: Blick auf das junge Mädchen:
„Wir wollten es Dir nicht erst schreiben in Deiner
Trauerstimmung, aber unser Bruno hat sich verlobt.
Da — Fräulein Julie Kern, die Nichte meines braven,
vortrefflich en H artivei ler."
Henrika schlug die Hände zusammen. „Das kleine
Julchen von damals!" rief sie aus. „Und da glaubt
Unsereins, man ist noch jung!"
Sie fühlte sich seltsam betroffen von dem Anblick
des jungen Mädchens. Hartweiler's Nichte! Sie hatte
die Erinnerung gewaltsam zurückgedrängt — sie war
ja verheirathet. Und nun fand sie das Kind von da-
mals verlobt mit ihren: Bruder!
Ein ganzes sonnendurchglünztes Leben breitete sich
vor Henrika aus: Die Kleine war so glücklich — so
glücklich! Sie war es offenbar auch immer gewesen!
„Freilich, wir waren Waisen," sagte sie, „aber wir
merkten nichts davon. Der Onkel ist ja so gnt . . ."
sie wurde ein wenig ernst. „Der arme Onkel! Gewiß,
auch er Hütte gerne gehecrathet, aber er entsagte, uns
 
Annotationen