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‘ Heft 5.

— ur 4

111


von einem Augenblick zum andern Wundfieber oder
irgend welche andere Verſchlimmerung ſeines Zuſtandes
einſtellen.

Aber auch das Unterbringen erwies ſich ſchon als
ſchwierig. In drei Häuſern, wo man es verſuchte, war
Alles von Verwundeten überfüllt. Außerdem war in
den Häuſern eine fürchterliche Luft, ein Geruch nach
warmem Blut und faulendem Moder, wie das an
ſolchen Verband- und Operationsplätzen nicht zu um-
gehen war, daß ſchon den Geſunden davon übel wurde,
um wieviel mehr den Kranken.

Endlich fanden ſie in der Nähe der Kirche von
St Privat ein Haus, das wenig von dem Bombardement
gelitten und das im zweiten Stock oben noch Raum
für einige Verwundete bot. Im Parterre und im oberen
Stock war ſchon Alles belegt, und einige preußiſche Aerzte
in voller Arbeit. Das Schreien und Wimniern der
Verwundeten war entſetzlich. Ueberall ſah man die
Spuren der Operationen. Eimer mit Blutwaſſer waren
auf die Straße ausgeleert worden. Kleine Fieiſchtheile
und Knochen, abgeſchnittene Glieder von Menſchen waͤren
im Garten in eine Grube zuſammengetragen worden.
Als Mar die Treppe, eine ſchmale, winklige Steintreppe,
hinauf eilte, um ſich nach Platz für ſeinen Onkel umzu-
ſehen, glitt er aus — in einer Blutlache! Die Ver-
wundeten lagen nicht in Betten. Man hatte noch keine
Zeit gehabt, ſolche herbeizuſchaffen. Auf der bloßen
Erde, auf Stroh, wo man jeden Tropfen Blut fah,
ſtundenlang wartend, bis die Reihe an ſie kam, laut
ſchreiend vor Schmerz und Durſt! dieſem quälenden,
jammervollen Durſt, der die Folge jedes größeren Blut-
verluſtes iſt — ſo lagen die tapferen Söhne Deutſch-
lands da. —

Niemand, der das geſehen, wird es je vergeſſen!
Wie eine ewige Mahnung zuͤr Dankbarkeit und Erinne-
rung an unſere Helden von 1870 wird es in ſeinem
Gedächtniß fortleben, wird er es Kindern und Kindes-
kindern erzählen und ſchildern als den furchtbaren Preis,
den Deutſchlands Söhne mit ihrem Blut erlegt haben
für die freie, einige Heimath, für das unabhängige
deutſche Kaiſerreich, dieſe unſchätzbare Grundlage unſeres
Staatslebens, deren ſich Alle erfreuen.

Auf einer Schütte Stroh, das die Soldaten für
ihre verwundeten Kameraden im Garten zuſammen-
getragen, während ſie ſelbſt zum Theil auf bloßer Erde
ſchlafen mußten, wurde Hauptmann Weinhold — noch
immer ohnmächtig — niedergelegt. Da Oberſtabsarzt
Schurich ſchon einen Verband angelegt hatte, ſo war
es zwecklos den Verwundeten noch weiter durch eine
neue Unterſuchung anzuſtrengen. Max erinnerte ſich
dagegen des Geſprächs, das er in der letzten Nacht mit
ſeinem Onkel gehabt. Er nahm aus ſeinem Notizbuch
eine der Feldpoſtkarten, die er bei ſich hatte, und ſchrieb'
mit Bleiſtift folgende Benachrichtigung an ſeine Mutter
nach Burgſaßhauſen:

ESiegreiche Schlacht geſchlagen. Entſetzliche Verluſte.
Onkel Weinhold ſchwer verwundet in St. Privat ohne
ausreichende Pflege. Komm ſofort oder benachrichtige
Tante Thereſe. Marx.“

Sobald ſich ihm Gelegenheit bot, wollte er ſie der
Feldpoſt zur Beförderung übergeben.

Um dieſelbe Zeit ſaß auf der Höhe von Gravelotte,

in der Nähe eines mächtigen Wachtfeuers, auf einer
Leiter, die man von einer zerbrochenen Laffete auf einen
todten Gaul gelegt hatte, ermüdet von den Aufregungen
eines ſechzehnſtündigen Schlachttages, ein hoher Greis,
ſchon damals mit weißem Haar, und ſuchte mit dem
hellen klaren Blick die Finſterniß zu durchdringen und
den Stand der Schlacht zu erforſchen. Die Größe der

Verantwortung, die die Vorſehung ſeinem ſtarken Rücken
aufgebürdet, drückte ſich in einer gewiſſen Spannung
aus mit der er den Nachrichten vom Schlachtfeld ent-
gegenſah. Sie drückte ihn nicht, trotzdem ſie doch für
eines Menſchen Schulter faſt zu ſchwer war, aber er

war ſich ihrer bewußt. Sein Auge, ſein Mienenſpiel,
ſein ganzes Weſen ſprach es aus.

Endlich ſprengte ein Trupp Offiziere heran, voran
wieder ein Greis, Runzel an Runzel in dem bartloſen
Geſicht, bleich, überangeſtrengt, über und über beſtaubt,
aber das Heldenauge treu und jugendlich begeiſtert auf
ſeinen oberſten Kriegsherrn gerichtet. Mit elaſtiſcher

Gewandtheit ſprang General v. Moltke vom Pferde, und
die Hand an den Helm gelegt, ſagte er: „Majeſtät, der
Sieg iſt unſer, der Feind auf allen Punkten geſchlagen.“

Es entſtand kein übermüthiges Siegesgeſchrei, kein
Lramarbaſirendes Triumphiren über den geſchlagenen
Feind. Stumm hob der König den Blick zum Himmel
und faltete die Hände, während eine Regimentskapelle,
die ſich in der Nähe befand, die fromme Weiſe:

„Nun danket alle Gott
Mit Herzen, Mund und Händen —“
ſielte.

Dann wurde die berühmte Siegesdepeſche nach Berlin
diktirt, welche die ſo ſehr charakteriſtiſchen Worte ent-

bielt: „— — Ich wagé nicht nach den Verluſten zu
fragen!“

Nur ein echt deutſches Gemüth, ein Herz, das ſich
in Freude und Trauer, in Noth und Tod mit dem
ſeines Volkes eins weiß und fühlt, das mit ihm ſchlägt
und zittert, konnte eine ſolche Wendung finden.

Dreizebntes Kapitel.

In der „Grünen Linde“, ſo hieß das einzige Gaſt-
haus von Burgſaßhauſen, ging es hoch her. Man
feierte den Sieg der deutſchen Truppen, über den die
Zeitungen jetzt die erſten Berichte brachten. Die Guts-
herrſchaft hatte zwei Faß Bier aufgelegt, Andere hatten
für Raketen und ſonſtige Feuerwerkskörper geſorgt, der
alte Häſſel hatte in der Freude ſeines Herzens die im
Lellex verborgenen Schätze wieder aus ihrem ſalzigen
Pökel herausgeholt und ſchonte ſie nicht bei der Be-
wirthung ſeiner Freunde. Freilich, wenn er an ſeine
Söhne dachte, die ja auch „draußen“ ſtanden, thaten


tröſtete ſich ſchließlich doch damit, daß ja ſeine Jungen
auch nicht auf den Kopf gefallen ſeien und fich „Ichon
durchfreſſen würden“.

Die Freude, die ſich in Burgſaßhauſen wie in
ganz Deutſchland über die Schlag auf Schlag folgen-
den Nachrichten, über die fortwährenden Siege ent-
wickelte, hatte verſchiedene Urſachen. Einmal war es,
daß man von der Angſt einer Invaſion, eines Krieges
im Lande, immer mehr und mehr erlöst wurde. Dann
aber riß die Begeiſterung über das wunderbare Inein-
andergreifen der verſchiedenſten Korps, der Bayern,
Württemberger, Heſſen, Sachſen, Preußen u. ſ. w. die
Einigkeit unter allen deutſchen Stämmen, immer größere
Kreiſe in den Strudel des Siegestaumels hinein; der
Stolz auf das eigene Heer, das ſolche unerwartete
Leiſtungsfähigkeit, ſo beiſpielloſe Tapferkeit entwickelte,
wuchs im Volke von Schlacht zu Schlacht; endlich war
es der Sieg an ſich und die hübſche Gelegenheit, ſich
darüber im Wirthshauſe zu unterhalten, was die Leute
aus dem Häuschen brachte. Das debattirte ſich ſo ſchön


ſtörend in die Unterhaltung platzten und ſich jedes ſtra-
tegiſche Genie mit aller Gemüthsruhe entfalten konnte,
indem es die Truppenkörper mit Kreide auf dem ge-
duldigen Wirthstiſch hin und her zeichnete. Zuletzt ging
Jeder in ſein Bett, um den Schlaf des Gerechten zu
ſchlafen. So war das in Burgſaßhauſen, und ſo wär
das überall. Die Leute hatten keine klare Vorſtellung
von einer modernen Schlacht und ihren Greueln, keine
Idee von den Bewegungen eines modernen Heeres in
Feindesland.

Frau Thereſe Weinhold lag im Bett und konnte
nicht ſchlafen. ;

Es mochte Mitternacht oder noch ſpäter ſein — ſie
wußte es nicht. Eine unerträgliche Unruhe befiel ſie.

„Leonore!“ rief ſie.

„Was iſt, Mutter?“ antwortete die Tochter.

„Was iſt denn das für ein ſchreckliches Geknalle da
draußen?“

„Die Leute feiern in der Grünen Linde den Sieg
von Gravelotte und brennen Feuerwerkskörper ab.“

„Es iſt entſetzlich. Ich weiß mich vor Unruhe nicht
zu laſſen. Bitte, zünde die Lampe an.“

„Aber Mutter, es iſt wirklich kein Grund vor-
hawen —

„Kein Grund? Sind wir nicht ſeit vier Wochen
ohne Nachricht aus Frankreich? Warum hat Moritz
nicht geſchrieben, und Max und Doktor Dahlitz nicht? Nur
der alte Häſſel hat eine Poſtkarte von ſeinem Sohn aus
Pont à Mouſſon erhalten. Sonſt Niemand im ganzen
Dorf.!

2 Soldaten werden auch nicht immer Zeit zum
Schreiben haben; es genügt ja, wenn immer nur Einer
etwas von ſich hören läßt. Dann weiß man ſchon,
daß Alle wohlauf ſind.“

Frau Weinhold ſeufzte, ſtand auf und warf einen
Schlafrock über.

„Welche Zeit iſt es denn?“ fragte ſie dann.

„Es ift gleich ein Uhr, Mutter.“

„Schon ein Uhr. Die Leute könnten doch nun auch
nach Hauſe gehen.“

Sie ſetzte ſich in einen Seſſel und verſuchte wieder
zu ſchlafen. Abex es war ihr nicht möglich, auch nur
minutenlang ruhig zu ſitzen. Eine quälende Unruhe
und Haſt erfüllte ſie. Sie ſtand auf, lief herum, lauſchte
hinaus und lief wieder hin und her.

„Wo mögen ſie jetzt ſein? Wo mag Morig liegen?
Er hat vielleicht nicht einmal ein ordentlichez Bett Und
er iſt ſo an ſeine Häuslichkeit gewöhnt. Cr wird ſich
erkälten. Er iſt gewiß krank, weil er nicht ſchreibt.“

In dieſer Weiſe arbeitete ihr Hirn fieberhaft fort
und fort. Kurz nach zwei Uhr wurde am äußeren Thor
die Glocke gezogen. Frau Weinhold fuhr erſchrocken in
die Höhe und ſchrie laut auf.

„Was iſt, Mutter?“ fragte Leonore wieder halb
im Schlaf.

„Hörſt Du? Man läutet.“

„Jenun, es wird Wahlmann ſein, der zum Vieh-
füttern kommt.“

„Nein, nein, das iſt nicht Wahlmann. Der kommt
vor vier Uhr nicht. Paß auf, Leonore, es iſt ein Un-
glück geſchehen. O mein Gott, mein Gott,“ ſchrie die
arme Frau laut, „ich habe es geahnt, gewußt! Ich
fühlte, daß ein Unglück geſchehen iſt.“

Sie horchte hinaus auf den Hof.

„Wo iſt ſie, Franz?! hörte ſie ihre Schweſter, die
Frau Doktor Hendrich, fragen.

„Es iſt Amalie, ſagte ſie zu ihrer Tochter wie er-
leichtert. „Was will fie denn um dieſe Zeit? Mitten
in dex Nacht! Jetzt macht man doch keine Beſuche.“

„Die Tante?“ fragte Leonore überraſcht und ſtand
auch auf, um ſich ſchnell anzukleiden. Was ihre Mutter
beruhigte, beunruhigte ſie.

Kurze Zeit darauf trat Frau Doktor Hendrich, eben-
falls nuͤr flüchtig gekleidet, raſch und aufgeregt in's
Zimmer.

„Du haſt Nachrichten von Max, Tante?“ fuhr
Leonore ſie ahnungsvoll an.

„Hm,“ machte dieſe zögernd und unſchlüſſig, „Ja!
Ich ſoll — ſoll euch mittheilen —“ *
„Was? Um's Himmels willen, was, Tante?“

Frau Weinhold ſtarrte ſie entſetzt an, wie man einen
Todesboten anſieht. Sie war ſo erſchrocken, daß ſie
zuerſt gar nichts ſagen konnte. Erſt nach einer kleinen
Pauſe ſchrie ſie gellend auf und rief:

„Er iſt todt, Amalie? Sag' mir die Wahrheit.
Iſt Moritz todt?“

Ihrer Schweſter traten die Thränen in die Augen.

„Nein, nein, nein! rief ſie haſtig. „Er iſt nicht
todt, Thexeſe, aber — aber er iſt verwundet. Nur leicht,
ganz leicht. Er liegt im Lazareth von St. Privat. Es
iſt gar keine Gefahr, Thereſe, ſo höre doch und ſtarre
nicht ſo vor Dich hin. Es iſt keine Gefahr, nur —
nur —”

„Ich hab's gewußt, o, ich fühlte es —“ ſtöhnte
Frau Weinhold. „Mar iſt bei ihm. Es iſt alſo keine
Gefahr, keine momentane Gefahr —“

„Nun, hoffentlich nicht. Aber Max meint, es ſei
doch gut, wenn Jemand zur beſſeren Pflege hinkäme.“

„Nach Frankreich?“

„Ja. Nach St. Privat la Montagne bei Metz.“

„Er kommt alſo nicht heim? Er kann nicht trans:
** werden? Man bringt doch ſo viele Verwundete

eraus.“

Frau Weinhold beſtand darauf, daß ihre Schweſter
ihr die Poſtkarte zu leſen gebe, und Frau Doktor -
Hendrich blieb nichts Anderes übrig, als ſie ihr ein-
zuhändigen, und Frau Weinhold las:

„Schwer verwundet keine Pflege mur-
melte ſie. Dann faßte ſie ſich an den Kopf, als wenn
ſie ſich ſammeln, beruhigen müſſe. Nach einer Pauſe
fuhr ſie fort: „Ja, nur raſch! Leonore, rufe Sophie,
packt raſch Alles zuſammen, ich will fort. Mit dem
nächſten Zuge. Wecke Friedrich. Wann geht der Zug?“

„Aber Mutter, Du wirſt doch nicht allein, in ſolchem
Zuſtand fahren?“

„Nur raſch, raſch! Du kannſt ja mitfahren, wenn
Du willſt. Nur vorwärts. Der Zug geht, glaube ich,
halb Fünf oder ſo da herum. Wir haben nicht lange


ſchrie ſie dann wieder laut, „nur raſch, Leonore, raſch.
Und vergiß nichts.“

Wenige Minuten ſpäter war im Gutshof Alles in
Bewegung und Aufregung. Man rief und lief hin und
her. Die Pferde wurden angeſchirrt — man mußte drei
Stunden weit nach L... fahren, weil der direkte Zug
in Burgſaßhauſen nicht hielt — haſtig und in abgeriſſenen
Sätzen erzählten ſich die Leute, daß ſchlimme Nachrichten
vom Herrn eingelaufen ſeien, Manche ſagten, er ſei todt.
Kaum eine halbe Stunde ſpäter raſſelte Frau Weinhold
mit ihrer Tochter in der alten Landkutſche hinaus in
die Nacht, polternd und holpernd durch's Dorf.

Man ſagt von manchen Frauen, daß ſie nur ſo
lange krank ſind, als ihnen nichts fehlt, im Falle der
wirklichen Noth aber von einer Widerſtandskraft und
Zähigkeit ſich erweiſen, um die ſie der ſtärkſte Mann

Jedenfalls gehörte Frau Weinhold zu dieſen. Sie
hatte ſich wohl kein genaues Bild von einer ſolchen
Reiſe auf den Kriegsſchauplatz gemacht. Sie kannte ja
die Schwierigkeiten, die ſich einem ſolchen Unternehmen
entgegenſtellten, nicht einmal, aber ohne auch nur einen
Augenblick zu zögern, war ſie dazu entſchloſſen. Mochte
da kommen, was da wollte, ſie mußte es überwinden.
Sie war von Hauſe aus eine etwas verzogene und ver-
zärtelte Frau, aber ſie war entſchloſſen, allem Komfort,
dieſem Vorrecht der Yrau in der Welt, zu entſagen,
Strapazen, Hunger und Durſt, wenn es ſein mußte,
zu ertragen, um ihrem Manne zu Hilfe zu eilen. Sie
fühlte ſich verpflichtet, in der Gefahr ihren Platz an
ſeiner Seite einzunehmen. Der Gedanke, ihren Mann
zu verlieren, machte ſie zur Heldin. Was war ſie denn
noch, wenn er ſtarb? Nichts! Weniger als nichts. In
den langen Jahren dörflicher Abgeſchiedenheit hatten
ſich die Ehegatten ineinander eingelebt, ſich ſo aneinander
 
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