Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Hinweis: Ihre bisherige Sitzung ist abgelaufen. Sie arbeiten in einer neuen Sitzung weiter.
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
geft 26.

das Bug fur MLLe

619

in dem Paſtor Körner ſeit ungefähr dreißig Jahren
lebte, erforderte kräftige Naturen und wenn ver Pfarrer
ſich auch einer feſten Geſundheit erfreute, ſo waͤr doch
bei ſeinex Frau nicht ein Gleiches der Fall, und ihre
zartere Beſchaffenheit vererbte ſich auf die Kinder.
Es war wohl natürlich, daß Frau Körner ihren
erſtgeboxenen und zuletzt uͤbrig gebliebenen Sohn mit
einer zärtlichen Sorge pflegte, die den Paſtor mitunter
peranlaßte, aus Erziehungsgründen eine rauhere Seite
hervorzukehren, und auf diefe Weiſe entwickelte ſich das


faͤltige Weiſe. Adolph hing mit einer unbegrenzten

Liebe an ſeinex Mutter, aber er ſcheute ſich wegen dieſer
zarten Liebe, die kleinen und gkoßen Sorgẽn ſeines
Lebens an ein Herz zu legen, das ſtets angſtvoll für
ihn ſchlug; die Mutter blieb die Vertraute ſeiner
Freuden, an den Vater wandte er ſich in ſeinen Nöthen.
Häufig nicht ohne Widerſpruch und Kampf.

Die beiden Naturen waren zu verſchieden, um ſich
ſtets ineinander fügen zu können, denn währeuͤd Paſtol
Körner in religiöfen, politiſchen und ſozialen Fragen
doas konſervatige Prinzip vertrat, war der Sohn ent:
ſcchieden dem Fortſchritt zugeneigt, aber ſein weicher
Charafter ſuchte inimer wieder eine Stütze an dem
ſtarken Geiſte des älteren Mannes, und er fand ſie
_ auf den feſten Grundlagen einer nur ſcheinbar ver-
hüllten Liebe.

Es war für den Geiſtlichen ein großer Schmerz
geweſen, daß der Sohn ſich entſchieden weigerte! Den
Vterlichen Beruf zu ergreifen; ein größerer noch, daß
Jener ſich dem Studium der Medizin zuwandte.


wendigkeit der Heilkunde einzuſehen, und er achtete das
hohe Maß ſelbſtverleugnender Menſchenliebe, welches
jeden pflichtgetreuen Arzt auszeichnet; allein er fürchtete
für ſeinen eigenen Sohn den in ſeinen Augen unheil-
vollen Einfluß einer freiſinnigen Weltanſchauung. Den-
noch hatte er ſich gefügt und bei ſeinen ſchmalen Ein-
fünften mitunter gedarbt, um dem Sohné das theure
Studium zu ermöglichen.
Nun war die ſchwerſte Zeit vorüber, und der junge
Baum begann reife Früchte zu tragen. Man prophe-
zeite dem begabten Arzte eine glänzende Zukunft.

Der Tag neigte ſich ſeinem Ende entgegen. Er
war irübe und regenſchwer geweſen, und erſt gegen
Abend kam die Sonne auf einige Augenblicke durch.

Frau Suſanne Körner ſaß am Fenſter der Wohn-


nächſtenz ſeinen Geburtstag, und das Werk war zum
Geſchenk für ihn beſtimmt.
Sie war eine kleine, zarte Frau mit frühzeitig er-
grauten Haaren; ihr Geſicht mochte früher hübſch ge-
weſen ſein, jetzt wurde es nur durch den Ausdruͤck
Zroßer Güte verſchönt. Sie hob von Zeit zu Zeit den
Kopf und blickte durch das kleine Fenſter nach der
nahe gelegenen Kirche hinüber, die mitſammt dem Fried-


den Anſchein, als ob ſie von dorther Jemand er-
warte.

Nach einer Weile kam auch Paſtor Körner von
jener Seite langſam hergegangen. Die Hände auf dem
Rücken und den Kopf nach voͤrne geneigt, ſchien er in
tiefe Gedanken verſunken zu ſein, und Frau Suſanne
wunderte ſich auch nicht darüber, denn er hatte die
Gräber der Kinder beſuchen wollen, um nachzuſehen,
ob einige vor Kurzem gepflanzte Immortellen ſich ge-
deihlich fortentwickelten.

Er ging nicht in ſein Studirzimmer, ſondern kam
in die Wohnſtube, legte den Hut ab und ſetzte ſich
ſchweigend auf einen Stuhl.

„Nun?“ frug Suſanne nach einer Weile.

Es iſt Alles in Ordnung, Suschen. Unſer Herrgott
— Garten begoſſen, und die Pflänzchen ge-
deihen.“

; „Es ſind doch nicht meine Kinder,“ entgegnete
—— — _

Der Paſtor legte ſeine Hand auf ihren Arm. „Haſt.
Du es nach ſo vielen Jahren noch nicht überwunden,
Suschen? Wer weiß, wozu es gut war; mir hätten
auch Leid ſtatt Freude an ihnen erleben können.“

„Freilich,“ ſagte ſie. „Aber es iſt ein ſchlechter
Troſt. Nun, Gott weiß es am beſten, was er
thut.“

Der Paſtor nickte und ſah nachdenklich vor ſich hin,
dann begann er abermals: „Es gibt viel Leid auf der
Welt, Suschen. Da habe ich ſoeben vom Schulzen
eine Nachricht erhalten, die mich tief bewegt. Abel
Rottmann iſt todt.“

Mein Gott, ſo plötzlich? Aber eigentlich kann man
das doch als ein Glück bezeichnen.“

„Es ſind die Umſtände, Kind, die mich erſchüttern.
Er hat aus der Anſtalt entfliehen wollen und iſt dabei
ſchwer verletzt worden. Einige Stunden ſpäter war
—— —

Frau Suſanne legte die Arbeit aus der Hand, und
ſtand eilfertig auf.

„Wiſſen es die Frauen ſchon?“

>

Vermuthlich, denn es iſt ein Bote gekommen. Du
willſt wohl hin?
Natürlich; die Aermſten ſind ohnehin ſo verlaſſen!“
Körner zuckte die Achfek. „Ich alaube, ſie werden
S‘ zu tragen wiſſen, aber Du haſt Recht, Suschen.
will ich auch hingehen, für heute iſt es wohl
zu ſpät.“
Die Frau blickte ihren Mann etwas verwundert


der Sache. Aber ſie ging!


ſtube und ſchritt eine Weile auf und ab. Dann griff
er nach dex Pfeife und rauchte einige Züge, aber er
ſtellte ſie bald wieder in die Ecke und nahm ſeine
Wanderung aufs Neue auf. „Sollte ich mich wirklich
getäuſcht haben?“

Da wurde das Fenſter von einem vorübergleiten-
den Schatten verdunkelt, gleich darauf knarrte die Haus-
thür, und ein zögernder Schritt ging über den Flur.

Paſtor Körner öffnete raſch die Zimmerthür und
* im nächſten Moment Auge in Auge mit feinem
Sohne.


es wirklich, und ich habe Dich nicht bergeblich er-
wartet.“ ;

Du haſt mich erwartet, Vater?“ *

„Ich war auf dem Friedhofe bei den Gräbern
Deiner Geſchwiſter, und Du weißt, daß er ſehr hoch
gelegen ift. Ich ſah aus der Ferne Jemand bergauf
ſteigen und glaubte Deine Geſtalt zu erkennen. Duͤ
kommſt zu ungewöhnlich ſpäter Zeit.“

Der junge Arzt ſchien nicht auf die Worte des
Vaters zu achten; er blickte zerſtreut an demſelben
vorüber und frug raſch: „Iſt Mutter zu Hauſe?“

„Nein, ſie iſt bei Rottmanns.““

„Das iſt gut, Vater.
Dir zu bereden, um — Dir etwas anzuvertrauen.
Aber die Mutter darf es nicht wiſſen.“

„Ich dachte mir dergleichen, mein Junge, denn Du
kommſt ja zu einer ganz ungewöhnlichen Zeit. Vor
allen Dingen nimm Platz.“

Adoalph Körner blickte ſich in dem ſchlichten Raume
um. Cr war in den letzten Jahren nie mehr auf
längere Zeit daheim geweſen, er kam gewöhnlich nur
auf einen oder zwei Tage, weil ſein Beruf ihn zu ſehr
in Anſpruch nahm.

heimelte ihn an.
Der Schreibtiſch von gebeiztem Holz, das leder-
überzogene Sopha, der Tiſch mit der Wachstuchdecke,
die kein Muſter mehr aufwies — das waren alles
Gegenſtände, an die ſich tauſend Erinnerungen knüpften,
die ihn wieder zurückfuͤhrten in die Tage der Kindheit.
Er nahm einen Stuhl, an deſſen Lehne ein Stück
fehlte — das war ſein Stuhl geweſen — und ſetzte
ſich an dieſelbe Seite des Tiſches, wo er immer ge-
ſeſſen hatte, ſo lange er den Unterricht ſeines Vatẽrs
genoß. ; —
Auch den Alten ſchien die gleiche, jahrelang geübte
Gewohnheit zu überkommen, die niemals ſterben, ſon-
dern mur einſchlafen kann — er nahm in der Sopha-
ecke Platz und legte die gefalteten Hände vor ſich aͤuf
den Tiſch, als ob der Mann neben ihm wieder ein
Knabe ſei und im nächſten Augenblick aufſtehen würde,
um das Gebet zu ſprechen, wie er früher vor dem Be-


„All was mein Thun und Anfang iſt,
Geſcheh' im Namen Jeſu Chriſt.“

„Bater,“ ſagte der junge Arzt, „es war eine Feig-
heit von mir, als ich ſagte, ich habe nur etwas mit
Dir zu bereden. Nein — ich habe etwas zu bekennen.“


ſchloß die Hände feſter ineinander.

„Haſt Du ſchon gehört, daß Abel Rottmann todt iſt?“

„Ich habe es gehört, Adolph. Er iſt in eurer An-
ſtalt verunglückt. Ich kann mir die Sache ungefähr
denken und will Dir Dein Geſtändniß erleichtern. Er
war Deiner Obhut anvertraut, und Du haſt irgend
eine Vorſichtsmaßregel außer Acht gelaſſen. Auf dieſe
Weiſe konnte das Unglück geſchehen — iſt es nicht ſo?

„Nein, Vater, entgegnete der Doktor leiſe, „es iſt
nicht ſo. Die perſönliche Sorge für die Kranken liegt
den Wärtern ob; aber auch dieſe haben ihre Pflicht
gethan; es war ein Unglück, das Keiner verhüten konnte.“

Abermals ſchwiegen Beide.

„Soll ich die Lampe anzünden?“ frug der Alte.
„Es wird dunkel.“
Nein, Vater, laß es, ich kann ſo beſſer erzählen.
Alſo von Abel Rottmann. Er hatte auf ſeiner Flucht
durch das Fenſter eine tödtliche Verletzung erhalten, er
mußte ſterben.“ ;

„Iſt eure Wiſſenſchaft ſo unfehlbar, Adolph?“

„Wie der Wechſel von Tag und Nacht, Vater —
ich meine, in dieſem beſonderen Falle. Wir konnten
ſogar die Zeit beſtimmen; vierundzwanzig Stunden.“

„Ihr ſeid nicht unfehlbar,“ entgegnete der Paſtor;
„er iſt früher geſtorben.“



Und der Sohn entgegnete leiſe, aber feſt! „Ich
habe ihm ein ſchmerzſtillendes Mittel gegeben, Bater;
Morphium. Und das hat ſein Ende beſchleunigt.“

Paſtor Körner antwortete nicht gleich. Er erhob
ſich ſchwerfällig von ſeinem Platz, ging langſam an
das Fenſter und blickte, die Hände auf den Rücken
gelegt, in die tiefe Dämmerung hinaus.

Endlich ſagte er: Adolph, Adolph, welcher grenzen-
loſen, unglaublichen Nachläſſigkeit haſt Du Dich ſchuldig
gemacht! Eines Verſehens, daͤs ſogar ſtrafrechtlich ver-
folgt werden kann! Ich will es ja gerne glauben, daß
der Unglückliche nicht mehr gerettet werden konnte, aber
das iſt doch kein Grund, die gebotene Vorſicht aus dem
Auge zu laſſen. Ein Menſchenleben iſt waͤhrlich zu
koſtbar, um es auch nur um eine einzige Skunde zu


ermeſſen kann.“ *—

Auch der Sohn hatte ſeinen Sitz verlaſſen und war
an das andere Fenſter der Stube getreten. So ſtand
er von ſeinem Vater getrennt, und er hatte die Em-
pfindung, als ob zwiſchen ihm und dem alten Manne


Und dann ſtieß er kurz hervor: „Vater, ich habe
ihm das Mittel abſichtlich gegeben, um ſeine Leiden
abzulürzen!“ . /

Da ſchrie der Paſtor gellend auf: „Adolph, das
iſt nicht wahr, das kann nicht wahr ſein! Nimm das
entſetzliche Wort zurück!“

„Ich kann es nicht zurücknehmen, Vater, denn es
iſt wahr. So wie Du eben geſchrien haſt in Seelen-
pein, ſo ſchrie er im körperlichen Schmerz, und das
vermochte ich nicht anzuhören. Ich that es aus Mit-
leid — aus Menſchlichkeit!“

Die Magd kam in dieſem Augenblick herein und
ſtellte die brennende Lampe auf den Tiſch. Sie blickte
die Beiden ſcheu und verwundert an, daͤnn ſchlich ſie
ſich auf den Zehen wieder hinaus.

Nun ſah auch Adolph Körner in das Geſicht ſeines
Vaters. Daſſelbe hatte ſich ſeltſam verändert, es war
ein eherner Ausdruck in dieſe Züge getreten, ein Aus-


„Weißt Du, was Du biſt?“

Der Sohn ſchwieg.

„Du biſt ein Mörder!“

Jener zuckte zuſammen. „Nicht ſo, Vater! Er hat
mich ſelbſt darum angefleht,“ verſetzte er dumpf.

Der Geiſtliche machte eine verächtliche Handbewegung.
„Alſo mit dieſer armſeligen Entſchuldigung willſt Du
in dieſer furchtbaren Stunde fommen! Er hat Dich
ſelbſt darum angefleht! War jener Unglückliche denn
Herr ſeines Lebens? Durfte er es in Deine Hand
legen, wie einen Pfennig, den man ſich ſelbſt verdient
hatz Durfitelt. D e8s nehmen2t 20282
„Ja, Vater, nach meiner Ueberzeugung durfte er
das — und ich auch! Selbſt das Geſetz nennt mein
Thun keinen Mord; willſt Du härter ſein als das
Geſetz?“

„Ich bin kein Richter,“ ſagte der Alte hart, „ich
habe in dieſer Sache nichts mit dem Geſetze zu ſchaffen.
Ich ſtehe hier im Namen meines Gottes, und Gott
hat geſprochen: Du ſollſt nicht tödten‘; er hat aber nicht
hinzugefügt: Du darfſt tödten, wenn es der Andere
will‘. Ich bin kein Silbenſtecher, ſondern ich halte mich
an Gottes Gebot. Was willſt Du von mir?“

„Mich ausſprechen, Vater. Als ich die That be-
ging, war mein Herz ganz ruhig, aber hinterdrein kam
die Unruhe über mich.“

„Schlimm genug, daß ſie ſo ſpät kam! Iſt das die
Frucht meiner Erziehung?“

Der junge Arzt ſchüttelte den Kopf. „Nein, Vater,
den Vorwurf kann ich Dir erſparen. Wie oft haſt Du
mich auf Gottes Gebote hingewieſen, hier in dieſer
Stube, hier an dieſer Stelle. Aber ich bin einen andern
Weg gegangen, und das Leben ſtellt neue Fragen den
modernen Menſchen. Es wankt heute Alles; neue
Moralbegriffe tauchen auf, man verändert die Grenzen
zwiſchen Recht und Unrecht. Und wir Jungen ſtehen
mitten drin in dem Zwieſpalt zwiſchen alter Lehre und
neuer Erkenntniß.“ *

Paſtor Körner hatte ſich auf einen Stuhl geſtützt.
Er ſchien ruhiger geworden zu ſein, aber der ſteinerne
Ausdruck Iag noch immer auf ſeinen Zügen. Er ſprach
leiſe und undeutlich.

„Es iſt geſchehen, Adolph, und es iſt nicht wieder
gut zu machen. Ich hätte Dich lieber draußen auf dem
Friedhof neben Deinen Geſchwiſtern begraben, als das
an Dir zu erleben. Und ich frage Dich nochmals: was
willſt Du von mir?“

„Soll das ein Fluch ſein, Vater?“

„Nein, nur eine tiefe, bittere Klage. Nein, kein
Fluch — falls Du Dich mannhaft der Strafe für
Deine Sünde unterziehſt. Du haft Dich auch gegen
das weltliche Geſetz vergangen. Haſt Du noch keine
Anzeige erſtattet?“ ;

Ueber den Leib des jungen Arztes rann ein leiſer
Schauer; er fühlte das Fuͤrchtbare dieſer Worte doppelt,
weil ſie aus dem Munde des eigenen Vaters kamen.

„Es iſt gut, Vater,“ ſagte er endlich und ſtrich ſich

frug er langſam.“
 
Annotationen