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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 50.1915

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Heft 1
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2 -
sich bereits zu kleinen Lachen auf dem Pflaster an-
sammelte, umstand ein wißbegieriger Trupp Ein-
gangstür und Wagenschlag, den die beiden alten
Damen mit zahlreichem Handgepäck standhaft be-
setzt hielten.
- Dem jungen Manne brannte das Gesicht vor
Ungeduld. „Ich möchte bitten, mich aussteigen zu
lassen," sagte er endlich, die Hand gegen eine Riesen-
schachtel ausstreckend, die Miene machte, ihm ins
Gesicht zu fliegen. „Ich werde erwartet."
„Wir auch, junger Herr," sagte die Dame mit
den grauen Locken und sah dabei ihre Reisegefährtin
an, als fehlten ihr die Worte einem solch unkavalier-
mäßigen Betragen gegenüber.
Letztere, klein und rundlich, guckte durchs Fenster.
„Da steht Lorchen schon, Jette!"
Mit einem Satz sprang der junge Mann jetzt
durch die geöffnete Tür mitten zwischen die Um-
stehenden hinein.
Die Neugierigen steckten die Köpfe zusammen.
„Wer ist das? Kennt ihn jemand?"
Ein liebliches Mädchengesicht beteiligte sich allzu
deutlich an diesen stummen Fragen, um nicht ein
Lächeln auf Erich Wostermanns Lippen zu zwingen.
Unwillkürlich zog er den Hut, nahm noch einen
neugierigen Blick der blauen Augen mit sich und
schritt dann schnell in das sich mehr und mehr ver-
tiefende Dämmern hinein.
Der Marktplatz, viereckig und mit einstöckigen
Häusern umbaut, erhielt die sonnabendliche Reini-
gung durch ein paar Stadtarme, die in ihrer eifrigen
Unterhaltung die Frage des jungen Mannes über-
hörten.
„Ich will wissen, wo das Haus des Doktors
Beckmoder liegt?" wiederholte Wostermann ärgerlich.
„Der alte, grobe Kerl? Da wollen Sie hin?
Na, da gehen Sie nur immerzu die Straße dort
entlaug, bis Sie ans grüne Haus kommen — dg
wohnt er drinnen. Sie müssen aber gehörig an der
Schelle ziehen, denn der macht nicht gern seine Tür
auf, der olle Totendoktor."
Wostermann verschluckte eine Antwort auf diese
allzu offenherzige Erläuterung beim Anblick der
grinsenden Gesichter, die ihn anstarrten, wandte
sich ab und schritt die bezeichnete Straße hinab
in das nun völlig hereinbrechende Dunkel. An
der nächsten Straßenecke kam eben die Beleuchtung
in Gang. Der Lichtanzünder ließ die an eiserner
Kette hängende einsame Laterne wieder in die
Höhe gleiten, wo sie, vom Winde geschaukelt, krei-
schende Töne von sich gab.
Einzelne Marktwagen rumpelten noch vorüber,
sonst blieb alles still bis auf das Tropfen und Klingen
des rieselnden Regens.
Die Straße war lang. Endlich zeigte sich ein
Haus, das dermaleinst mit einem grünen Anstrich
hatte prunken können — Spuren davon klebten
noch an den Wänden und über der Haustür, nebeu
der ein rostiger Draht zum Läuten einlud.
Wostermann, der erhaltenen Ermahnung einge-
denk, zog daran aus Leibeskräften. Es blieb aber alles
still trotz des gellenden Klingelschreis im Innern.
Endlich, nach geraumer Zeit, schob sich ein Fenster-
laden oben unter dem schweren Dachsims aus-
einander, und eine Stimme rief herab: „Ich bin
abends nicht zu Hause für jeden Tölpel, der sich was
einbildet!"
„Onkel," sagte Wostermann, über den Rinnstein
näher herantretend, „ich bin's — Erich Woster-
mann."
Ein knurriges Brummen, was ebensogut Miß-
fallen wie Zustimmung bedeuten konnte, war die
Antwort. Dann rasselte ein Schlüssel, und die Tür
tat sich kreischend auf.
Im Flur stand, die Lampe in der Hand, ein
hagerer, grauhaariger Mann in einem verschossenen,
gelben Schlafrock. „Komm nur herein!" sagte er.
„Ich dachte, es wäre wieder so ein Lümmel, der mich
aus Schabernack herausstöbern wollte."
„Du hast mich nicht erwartet?"
Der Alte schlug die Tür krachend ins Schloß,
daß die Lampe durch den Luftzug zu verlöschen
drohte. „Ich erwarte niemand. Wenn du nicht
kommen wolltest, ließest du's eben bleiben."
Seine Stimme war rauh und sein Blick unter
den buschigen Brauen hervor scharf und finster.
Wostermann fühlte im Weitergehen, daß diese
Augen seine ganze Persönlichkeit in sich aufnahmen
und festhielten. Es wurde ihm unbehaglich zumute.
„Mir kam dein Angebot sehr gelegen, Onkel," sagte
er, den nassen Mantel von den Schultern nehmend.
„Meine Examina —"
„Ich frage den Kuckuck nach deinem Examen,"
sagte Beckmoder mißächtlich. „Eingepfropftes Zeug,
unverdautes Wissen und — na, was denn noch?"
„Pflichttreue!"
„Unsinn!" brummte der Alte, vor seinem Gast
ins Zimmer tretend und sich in seinem zersessenen

. n Vas Such für Mle .
Sorgenstuhl niederlassend. „Courage braucht's,
Mut und Frechheit! Die Bestie Natur unter-
ducken!"
„Ach, deine Gewalt- und Pferdekuren —"
Beckmoder kreuzte spöttisch die Arme und blin-
zelte seinen Neffen fast feindselig an. „Meinst du,
die Leute hießen mich den Totendoktor, wenn sie
glaubten, ich kurierte sie mit Lavendelöl? Nee,
mein lieber Nichtswisser! Wenn bei den drei Quack-
salbern hier Matthäi am letzten ist, wenn der Tod
schon am Bett steht — dann kommen die Leute
zu mir gelaufen. Ich lasse sie betteln, bis sie vor
Angst zu heulen anfangen —"
„Und dann?" fragte Wostermann gespannt.
„Dann gehe ich hin. Und dann heißt's: ent-
weder — oder. Meist bleibt's beim Entweder. Es
ist unglaublich, was der Mensch erträgt und ver-
trägt. Biegen oder brechen muß die Kanaille Natur.
Geht's gut ab, dann stehen die Weisen und Schrift-
gelehrten und bersten vor Grimm, läuft's schlecht ab,
reiben sie sich vergnügt die Hände —"
„Meinst du nur arme Leute oder auch —"
„Honoratioren," fiel ihm Beckmoder ins Wort,
„die mit großen Redensarten antreten, fliegen
ebenso schnell hinaus, wie sie hereingekommen sind.
Und zahlen müssen sie! Je unanständiger sie im
Geldpunkt sind, desto fester nehme ich die Bande
'ran. So 'n armen Teufel von sechsfachem Familien-
vater oder so 'ne Trampel von Dienstmagd laß ich
dafür ungerupft laufen."
„Und was ist deine Absicht, Onkel, betreffs meiner
hiesigen Tätigkeit, da du nur zu verzweifelten Füllen
gerufen sein willst?"
Der Alte holte eine Schnupftabaksdose von be-
trächtlicher Größe aus der Tasche und nahm eine
vollgewichtige Prise. „Die Kerle, die drei Medizin-
männer hier, sollst du mir ärgern helfen," sagte er
grimmig. „Sie winden mir ja schon, was sie
können, aus der Hand, aber wenn ich abgetan bin,
hoffen sie noch auf einen schönen Rest. Da sollen
sie nun lange darauf lauern! Mit mir wollen sie
ja nicht zusammentreffen am Krankenbett, haltcn's
für anstößig, weil ich mal was von Langohren-
trägern gemurmelt habe. — Hier wohnt so 'n reicher
Faulpelz, lebt von seinem Gelde und säuft wie 'n
Schwamm. Der kriegt's Zipperlein. Treten da
die drei Schriftgelehrten zusammen und tüfteln eine
Kamillenteebehandlung heraus, von außen und von
innen, daß der arme Kerl bald ans dem letzten Loch
pfeift. Heulend kommt die Tochter, und wie ich
die an die Luft gesetzt hatte, die Frau an: „Herr
Doktor, mein Mann schreit immerfort nach Ihnen/
Ich sehe mir die Teemanscherei an, werfe das Zeug
zum Fenster hinaus. ,Gebt ihm 'ne Flasche Kognak
und laßt ihn saufen, soviel er willst verordne ich.
Nach zwei Tagen stand er auf."
Wostermann brach in lautes Lachen aus.
„Die Frau Bürgermeister lamentierte danach
auf einem Klatschkaffee: „Jemine! Der Schlag hätte
den Mann auf der Stelle treffen können!' — Darauf
ließ ich ihr durch einen sicheren Gewährsmann sagen,
daß guter Kognak unschädlicher sei als eine giftige
Zunge. Seitdem bekomme ich ihre grauen Locken-
tuffs nur noch von hinten zu sehen."
„Graue Lockentuffs?" fiel Wostermann auf-
horchend ein. „Dann war es Wohl die Frau Bürger-
meister, mit der ich soeben ankam. Es war noch
eine andere alte Dame dabei."
„Die Syndikus Hirsinger war's, ihre Schwester,"
sagte Beckmoder trocken. „Ähnliches Gewächs! Sie
haben eine Erbschaft erhoben."
„Ich hörte und sah auch etwas von einer Mamsell
Lorchen, die draußen im Regen wartete."
Der Alte stand auf. Sein Gesicht ward streng
und finster wie zu Beginn der Unterredung. „Also"
— er blieb vor seinem Neffen stehen, ohne auf dessen
letzte Bemerkung zu antworten —- „du sollst so etwas
wie meinen Assistenten vorstellen. Als solcher hast
du dich einzuführen. Von meinem Rufe wird dir
soviel ankleben, daß man neugierig auf dich sein
wird. Das nütze aus und lasse merken, daß deine
Kunst nur noch auf das Menschenmaterial wartet."
Wostermann biß sich auf die Lippen. „Ich
werde also mit den Kollegen hier einen schweren
Stand haben?"
Der Alte klopfte ihm spöttisch auf die Schulter.
„Geniere dich meinetwegen nicht. Ich halte genau
dasselbe von dir wie von jenen. Und jetzt —"
Er zog die Klingelschnur.
Ein junger Mensch trat ein.
„Für den Herrn Doktor die Stube rechts fertig
machen! — Ich halte keine weibliche Bedienung,"
fügte er hinzu, als sein Diener, ein früherer Armen-
hauszögling, sich entfernt hatte. „Weiber aus dem
Hause! heißt's bei mir. Ein Abendessen kann ich
dir nicht mehr vorsetzen!"
Wostermann nahm schweigend Mantel und Hut,
um sich in sein neues Heim zu begeben. Er folgte

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seinem Führer über den dunklen Hausflur in das
für ihn bestimmte Zimmer. Tie unterwürfige
Haltung des jungen, blassen Burschen gefiel ihm
nicht. Freilich, Ärmenhauskinder sind nicht sonder-
lich zur Freude geboren, aber mit achtzehn Jahren
pflegt doch das Jugendblut auch ihnen in den Adern
zu kreisen.
Die Talgkerze im Messingleuchter warf gerade
soviel Schimmer über die Schwelle, daß die Umrisse
des Raumes sichtbar wurden. Wostermann merkte
alsbald an der stickigen, dicken Luft, daß die beiden
Fenster wohl schon sehr lange nicht mehr geöffnet
sein mochten.
Er ließ in dem bauchigen Kachelofen ein Prasseln-
des Feuer entzünden und beauftragte den Burschen,
Koffer und Reisesack vom Posthause abzuholen.
Dann, allein gelassen, riß er mit nervöser Hast die
Fenster auf und begann langsam die Grenzen seines
Gebietes zu umschreiten.
Die Ausstattung des Zimmers war wenig an-
heimelnd. Ein alter Sekretär mit aufklappbarer
Schreibplatte, ein wurmstichiger Kleiderschrank, ein
wackeliger Waschtisch mit angestoßenem Geschirr und
in der Mitte ein für Ewigkeitsdauer berechneter
Rundtisch, den vier vormals grün gepolsterte Stühle
melancholisch umstanden. Sich gegenseitig ergän-
zend, türmte das Federbett seine Massen einem
mottenzerfressenen Sofa gegenüber auf, von dem
Wostermann nicht mit Unrecht wähnte, daß der weh-
mütige Diener seines Onkels diese Ruhestätte seiner
Dachkammer vorgezogen hatte.
Da es in diesem Hause anscheinend nichts zu
essen gab, mußte Wostermann trotz seinem Ruhe-
bedürfnis nach der beschwerlichen Reise wieder
nach seinem noch feuchten Mantel greifen, hielt ihn
aber eine Weile nachdenklich in der Hand. War es nicht
doch ein dummer Streich gewesen, sich ohne weite-
res in diese unerquicklichen Verhältnisse zu stürzen?
Es wäre ihm in seiner norddeutschen Heimat vielleicht
besser geglückt als hier. Aber das leidige Geld!
Sein bißchen Erbe war bis auf einen Rest, den er
in der Börse bei sich trug, beim Studium draufge-
gangen, die Heimat mit dein breiten Doppelgrab
der Eltern tot für ihn. Die einmal zu erwartende
Bcckmodersche Hinterlassenschaft hatte ihn auch ge-
lockt, und er war außerdem des Glaubens gewesen,
daß in diesem Städtchen Wohl ein Arzt mit dem
Tode abgegangen oder verzogen sei, in dessen Stelle
er schleunigst einzurücken habe.
Trotz dieser drückenden Gedanken blieb der leere
Magen Sieger. Wostermann schlug den Mantel
über der Brust zusammen, ging die Treppe hinab
und trat über die schlüpfrige Schwelle ins Freie
hinaus.
Der Regen hatte aufgehört. Der Wind blies nach
Herzenslust die Wolken, aus denen ganz verschämt
der Mond hervorblinzelte, über die Stadt hinweg.
Und es war gut, daß er jeweilen leuchtete, denn
Punkt zehn Uhr kam der Laternenwärter und löschte
die Laternen für diese Nacht aus — in demselben
Augenblick, wo der Nachtwächter die Stunde ab-
blies und sein Lied sang: „Hört ihr Herrn und laßt
euch sagen —"
Wostermann, vom Drängen seines knurrenden
Magens getrieben, versuchte umsonst, in der Nähe
eine gastliche Stätte zu finden. Erst auf dem
Marktplatz, dem Posthause schräg gegenüber, be-
merkte er Anzeichen einer Gastwirtschaft und trat
alsbald zu ebener Erde in ein behagliches Zimmer
ein.
Der viersenstrige Raum, durch Hängelampeu
spärlich erleuchtet, wies ein blankgesessenes Leder-
sofa auf und eine Anzahl kleiner Tische. Der Wirt
machte selbst die Bedienung. Besondere Aufmerk-
samkeit widmete er einem Tisch mit türkischroter
Decke, an dem drei Herren ihren Nbendtrunk bei
gedämpfter Unterhaltung zu sich nahmen.
Wostermann, sich auf dem nächsten Platz nieder-
setzend, bestellte, was zu haben war, und in der Er-
wartung der Labung entging ihm die allgemeine Auf-
merksamkeit, die ihn wie in ein Netz von stummen
Fragen einspann. Selbst den Inhabern des Hono-
ratiorentisches zuckte die Neugier aus jedem Augen-
winkel, als der Wirt seine Unkenntnis über diesen
ihm durchaus Fremden achselzuckend eingestand.
Inzwischen, gesättigt und durch ein Glas steifen
Grog erfrischt, ließ Wostermann nun auch seinerseits
die Blicke umherschweifen. Unwillkürlich fesselte
der bevorzugte Tisch sein Interesse, und indem er
seine Zehrung beglich, befragte er den Wirt nach
Stand und Namen des so würdevoll pokulicrenden
Kleeblatts.
„Der Herr Bürgermeister ist schon nach Hause
gegangen," sagte Herr Ducker, mit der Wichtigkeit
des Eingeweihten das Geld einstreichend. „Die Frau
Bürgermeister hat's nicht gern, wenn der Herr
Bürgermeister spät nach Hanse kommt. Sie schickt
dann das Mädchen und läßt ihn holen. Den Herrn
 
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