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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 50.1915

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Heft 2
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https://doi.org/10.11588/diglit.47351#0041
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sllustnetts ffsmilienreitung
2. kiest. MS.
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Rückkehr von der Hochwur. Nach einem öemälde von U. 8chwarrschi!d (5. 34)

Ein paar Hunds heulten vor Kälte in den Höfen.
Sonst war alles still.
Und so trabte er, die zweite Stütze der Ver-
waltung nnd der Verfechter der öffentlichen Meinung,
wie ein Gehetzter durch die lange Straße, immer-
weiter und weiter, bis an das grüne Haus, wo des
Totendoktors Lampe durch den Ladenritz Kunde
. von dessen Anwesenheit gab.
Das Läuten der Glocke gab ihm zwar einen
Stich ins Herz, aber das Bohren im Kopfe über-
tönte ihn.
Der ehemalige Armenhauszögling und derzeitige
Diener des Doktors öffnete die Tür. Ohne ein
Wort zu sagen, drängte sich der Syndikus an ihm
vorüber in den Flur und trat nach krampfhaftem
Anpochen in Beckmoders Zimmer.
Der Alte, im gelben Schlafrock, schlurrende
Pantoffeln an den Füßen, sah grimmig von seiner
Schreiberei in die Höhe. „He? Was ist los?"
Der Syndikus hob die Mütze von den Ohren
und enthüllte sein vermummtes Antlitz. „Ich bin's."
Beckmoder sprang von seinem Sitz auf und lachte,
daß ihm die Brille von der Nase fiel. „Hoho!
Sie sind's! — Wäre mir nicht unlieb, Sie wären
geblieben, wo Sie waren."
Hirsinger ließ ihm nicht Zeit zu weiteren Grob-
heiten, er faßte ihn an einem der gelben Ärmel.
„Ich werde noch wahnsinnig, Doktor!"
„Das sind viele, ohne daß sie es wissen," sagte
der Alte mißächtlich.
„Ich soll Kopfgicht haben," murmelte der Syn-

dikus giftig. „Lidersangs Mittel haben mir schon
eine Blase gezogen und eine Beule Hinterm Ohr —"
„Ziehen Sie ihm dafür einen Jagdhieb übers
Kreuz," sagte Beckmoder grob. „Ich will nichts mit
diesen Medizinmännern zu tun haben. Ihr Hono-
ratioren sollt mir vom Leibe bleiben! — Aber freilich,
wenn's ins Fleisch brennt," fuhr er höhnisch fort, „da
weiß man plötzlich, wo der Helfer wohnt. Weg mit
dem Lappen da!"
Der Syndikus befolgte den Befehl mit fliegender
Hast. Ein heißes, rotes und geschwollenes Antlitz
stellte sich kläglich dar.
Der Alte tippte hin und her auf der Backe herum
und brach wieder in schnödes Lachen aus. „Haben
Umschläge verordnet? Pflaster auch? Fliedertee
auch? Die ganze Eselei! — Vorwärts jetzt, hinsetzen!
Auf den niedrigen Schemel da!"
Der Syndikus gehorchte. Ihm war wenig Wohl,
als Beckmoder zum Schrank ging und ein höchst
unliebenswürdiges Instrument herausnahm, das er
mit etwas Leinwand sorgsam umwickelte.
„Sperren Sie's Maul auf! — Sie sollen sich
setzen!"
„Aber —"
„Was aber! Jetzt halten Sie still!"
Er hatte ihn schon auf die Fußbank gedrückt
und zugleich seinen Kopf wie im Schraubstock
zwischen die Beine gepreßt.
Der Syndikus, dem der Angstschweiß von der
Stirn lief, lallte noch etwas Unverständliches von
der Gefahr des Zahnziehens bei solcher Geschwulst,
als der Alte die Zange bereits in
das Zahnfleisch versenkte und, wäh-
rend Hirsinger einen vergeblichen
Befreiungsversuch machte, den ge-
waltigen Zahn mit vorsichtiger Kraft
zu lockern begann.
Jetzt ein krachender Ruck, ein
Knirschen — der Syndikus fuhr mit
einem unartikulierten Schrei in die
Höhe, dieweil Beckmoder das Re-
sultat seiner Bemühungen voller
Aufmerksamkeit betrachtete.
„Mit diesem Beutel," sagte er
grinsend, auf den Eitersack deutend,
der schwer an der Wurzel hing, „kön-
nen Sie meinetwegen morgen eine
Vergnügungsreise antreten. Jetzt
ausspucken da drinnen!"
Hirsinger, stieren Blicks die lein-
wandumwickelte Zange anstarrend,
vermittels deren er sich plötzlich vom
heftigsten Schmerz befreit fühlte,
schritt mit fahler Blässe in das
Schlafkabinett, hinter dessen Tür der
Totendoktor bereits verschwunden
war. Aber an der Schwelle blieb
er erschrocken stehen ob der merk-
würdigen Beleuchtung, die den klei-
nen Raum nur dämmernd erhellte.
Von der Decke herab baumelte
ein gebleichter Schädel, indessen Höh-
lung ein Ollämpchen in rotgefärbtem
Glase brannte, dessen Licht mit ge-
spensterhafter Wirkung durch Augen-
und Ohrenhöhlen und zwei tadellose
Zahnreihen hindurchschimmerte.
„Mein Symbol!" sagte Beck-
moder spöttisch, als er den Schreck
des Syndikus gewahrte. „Beißt
aber nicht — und hat seine Geschichte
für sich. — Was, alter Bursche?"
Dabei versetzte er der Hängelampe
eine Art Nasenstüber, daß sie zu
schaukeln begann.

Vas grüne staus.
üoman aus der lliedermeierreit.
von Seorg kKrtwig (Lmmg koeppel).
irvNsetnmg.) ... - (Nachdruck oerdolsa.)
_ Drittes Kapitel.
fing es an, leise zu schneien.
Ml I W Die grauen Wolken hingen ihre trüb-
seligen Schleier immer tieser über das
WEM Kirchturmpaar, und ganz verstohlen
oSzMW huschte ein Flöckchen nach dem anderen
durch die schwachbewegte Luft. Erst dann, als die
nntergehende Sonne das frühe Dämmern in noch
früheres Dunkel versenkte, stürzte die Schneeladung
aus der Höhe in dichtem Wirbel auf das Städtchen
herab. Es stöberte und jagte wirbeltoll von den
Dächern die Straßen entlang, nun der erwachte
Nachtwind mit vollen Backen zum Tanze aufblies.
Das Eckhaus des Syndikus Hirsinger lag nicht weit
vom Marktplatz in einer Nebengasse. Da es einen
Garten besaß, hatte es zwei Ausgänge. Durch die
Hintertür, den Steig entlang, war das Gitter-
Pförtchen leicht erreichbar, das auf die angrenzende
Straße führte.
Das Zimmer Hirsingers, in dem sonst Frau
Susannes Stricknadeln des teuren Rüböles wegen
mit zu klappern pflegten, und Lavinia, Werthers
Leiden in sich aufnehmend, mit den schmalen,
weißen Händen geflammte Weihnachtsschale zur
Vollendung brachte, war heute ein-
sam, aber weder still noch menschen-
leer. Der Syndikus tobte für drei
aus einer Ecke in die andere, und
jedesmal, wenn das zirpende Harfen-
spiel seiner Tochter ihm ins unver-
bundene Ohr fiel, hatten seine Füße
ein kribbeliges Verlangen, gegen die
verschlossene Tür anzudonnern. Es
wagte sich niemand mehr in seine
Nähe, und das Hausmädchen Kathrine
hatte erklärt, die Angst habe ihre
Beine wie im Krampf zusammen-
gezogen, weswegen sie keinen Schritt
mehr aus ihrer Küche zu machen
imstande sei.
Inzwischen waren die Qualen
des Syndikus so weit gediehen, daß
er vor einer Silhouette des Doktors
Lidersang in ein höhnisches Wut-
lachen verfiel, fo Verbost, daß er
einen Augenblick selbst die den
Schmerz verdoppelnde Mundbewe-
gung mit in den Kauf nahm.
Und dann kam's über ihn wie
Teufelsspuk. Etwas nie Erhörtes,
das ihm wie ein höllischer Blitz in
die Seele schoß, riß ihn zu der Stelle
hin, wo der Kleiderschrank ihm Kra-
genmantel und Pelzmütze beher-
bergte.
Delirierte er schon, als er sich
mit fiebernder Hast bis an die Ohren
einhüllte und die dicke Mütze so
weit ins Gesicht zog, daß nur noch
etwas weißes Verbandzeug von sei-
nem Kopf zu sehen war? Also ver-
mummt schlich er leise aus der Hinter-
tür, über den Schneeteppich des
Gartens hinweg durchs Pförtchen,
vorsichtig Umschau haltend wie ein
schuldbewußter Verbrecher, und dann
huschte er draußen um die Ecke..
Niemand war auf den Gassen.
 
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