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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 50.1915

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Heft 2
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28

Vas Luch für- Mle

M2

Hirsinger, ganz benommen vom dem, was er sah
und ausgestanden hatte, spülte und spuckte, wagte
auch keinen Einspruch, als Beckmoder die Wunde
zusammendrückte, und fragte endlich mit matter
Stimme nach seiner Schuld.
„Zwei Taler!" sagte der Alte kurzweg.
Der Syndikus war ein wohlhabender Mann,
und wohlhabende Leute zu schröpfen, war Beck-
moderscher Grundsatz. Zwei Taler für Zahnziehen
war ein unerhörter Preis. Der Bader nahm höch-
stens vier gute Groschen, und zwar nur von den
Vornehmeren.
Aber die Wonne, den rasenden Schmerz los-
geworden zu sein, versüßte diese bittere Pille. Er
zog die blauseidene, mit Stahlperlen durchhäkelte
Börse und legte das Verlangte auf den Tisch.
Der Alte steckte das Geld grinsend in die Westen-
tasche. „Nun gebe ich Ihnen noch einen guten
Rat gratis. Wenn Sie nach Hause kommen, trin-
ken Sie zwei Gläser steifen Grog, aber recht steifen
— verstanden? Und dann in die Posen! Und das
Schwatzen können Sie heute abend unterlassen. —
Gute Nacht!"
„Ich habe," murmelte der Syndikus hinter dem
vorgehaltenen Tuch, „noch eine Bitte. Doktor
Lidersang —"
Beckmoder brnmmte etwas in sich hinein von
Knöpfhosen, was nicht zu verstehen war. Laut
sagte er: „Bei mir gewesen sind Sie nicht. Sie
brauchen aber auch nicht wiederzukommen." —
Draußen fiel der Schnee in dichten Massen nieder,
und ein kalter Nordost belustigte sich mit den Straßen-
laternen dermaßen, daß sie vor Atemlosigkeit jeden
Augenblick zu verlöschen drohten. Dazwischen
kamen zweimal neun dumpfe Schläge hinterein-
ander geflossen, da die beiden Turmuhren sich unter
keinen Umständen zur Einigkeit entschließen konnten.
Durch die Hintertür gelangte der heimeilende
Syndikus wieder ins Haus und in sein Zimmer
hinein, ein anderer Mann und voller Sehnsucht
nach dem verordneten steifen Grog.
Er zog also den perlenblumigen Glockenzug und
befahl in aufmunterndem Tone seiner verängstigten
Dienstmagd, heißes Wasser und Zucker herbeizu-
bringen, während er mit einem Nachschlüssel den
von Frau Suse sorglich verschlossenen Wandschrank
öffnete und mit strahlender Freude eine Flasche Arrak
daraus hervornahm.
Gerade in dem ersehnten Augenblick, da er den
dampfenden Trank über seine Lippen rinnen ließ,
erschien Frau Susanne auf der Schwelle, und einge-
denk Lidersangs Warnung rief sie laut um Hilfe,
während sie auf Hirsinger zueilte und ihm das
Glas aus der Hand zu winden versuchte.
Sein immer noch stark entstelltes Antlitz, das
jetzt aber innerste Befriedigung widerstrahlte, machte
einen so überwältigenden Eindruck, daß sie die
Arme sinken ließ.
„Du trinkst Gift, Leberecht!" sagte sie zitternd.
„Grog!" murmelte er, des Sprechverbots ge-
denkend, und schlürfte nur um fo emsiger die höchst
angenehme Medizin hinunter.
„Du sagst uns also für immer lebewohl?"
flüsterte sie, der herbeigestürzten Lavinia weinend
zunickend.
„Gute Nacht!" murmelte er, sich auch noch das
zweite Glas einverleibend und danach ohne weiteres
und vollbefriedigt aus dem Zimmer gehend und
direkt ins Bett hineinkriechend, wo er alsbald wie
ein Murmeltier zu schnarchen begann.
vierte Kapitel.— -
Der Saal im Wirtshaus zum goldenen Stern
war für den Festabend nachdrücklich gescheuert wor-
den, so ausgiebig, daß bis zu guter Letzt der Seifen-
geruch im Zwiespalt lebte mit dem Tannenduft,
den einige über der Eingangstür und längs der
Bühne angenagelte Girlanden nach besten Kräften
hergaben. Diesem Zwiespalt machte die Praxis
des Herrn Ducker ein Ende, indem er auf den drei
Fensterbrettern eine Anzahl Räucherkerzen zu Asche
verglimmen ließ.
Am schmalen Ende des Saales erhob sich das
Podium, vom zurückgerafften roten Vorhang ma-
lerisch umrahmt. Als Dekoration diente im Hinter-
grund eine sattgrüne Waldlandschaft, in die sich
das Spinett der Frau Bürgermeister hineinverirrt
zu haben schien, indes seitens der baumtragenden
Kulissen Reihen kleiner Ollämpchen für Beleuch-
tung des Raumes zu sorgen bemüht waren. Vorn
an der Rampe entzündete Herr Ducker zu letzter
Frist eigenhändig eine Reihe gleicher Brennkörper,
die sich durch Platzen der Zylinder hin und wieder
unangenehm bemerkbar machten.
Die erste Stuhlreihe war nach alter Sitte den
vornehmsten Familien der Stadt Vorbehalten, die
mittelsten Sitze, einem bedeutenden Souffleur-
kasten gegenüber, insbesondere dem Hause Pog-

hammer. Nie wäre einer Menschenseele der über-
mütige Gedanke gekommen, sich dieser durch das
Herkommen geweihten Plätze zu bemächtigen.
Die Stadtkapelle, zehn Mann stark, stimmte im
Bewußtsein gespannter Erwartungen so nachdrück-
lich die Instrumente, daß der tanzlustigen Jugend
das Herz im Leibe aufhüpfte. Und nun kamen die
Honoratioren in Hellen Haufen über den Markt-
platz und den hartgefrorenen Schnee gezogen,
jede Familie einen dienenden Geist mit brennen-
der Laterne vor sich.
Unter den letzten Ankömmlingen, die an der
Saaltür ihren Beitrag auf den Zinnteller Frau
Iduna Sommerlichs niederlegten, befand sich Erich
Wostermann, und es war gut, daß er das Ablegen
seines Mantels in der Garderobe beschleunigte, denn
schon tönte ihm eine muntere Polka entgegen, unter
deren Klängen die Sitzenden und Stehenden all-
mählich zur Ruhe kamen.
Mit dem letzten Geigenstrich trat der Leiter des
Ganzen, Herr Geometer Artur Moselbach, aus der
Hinteren Kulisse, Mamsell Lavinias Harfe mit dem
goldenen Engelskopf im Arm tragend und sie neben
einem Stuhl aufstellend, um unverzüglich wieder
zu verschwinden und dann mit Lavinia selbst, vom
weiblichen Teil des Publikums mit bewundernden
Ah und Oh begrüßt, das Podium aufs neue zu
betreten.
Mamsell Hirsinger sah sehr jungfräulich und
selbstbewußt aus in einem rosa Baregekleid, dessen
Rock drei lange, mit schwarzem Samtband einge-
faßte Falbeln zierten und dessen Schnebbentcnlle
längs des etwas ängstlichen Ausschnittes vermittels
einer rosa und schwarzen Berthe über die Be-
schränktheit der Formen angenehm hinwegtäuschte.
Als sie sich niedersetzte, glitten ihr die langen
Seitenlocken nach vorn über die Schläfen, und ihre
meerfarbenen Augen richteten sich gleichfalls nach
vorn in den Saal, dahin, wo Wostermann seiner-
seits die rosa Erscheinung mit der frisch abgehobenen
Erbschaft prüfenden Blickes umfing.
Mit schmalen, weißen Fingern entlockte sie den
Saiten das Vorspiel, und während die Bürger-
meisterin einer hüstelnden Dame den schärfsten
Verweis durch ihre stechendsten Blicke zuschleuderte,
erhob die Sängerin ihre Stimme.
„Du siehst mich an und kennst mich nicht" —
Ein Sturm der Begeisterung ging mit dem letzten
Ton durch den Saal. Er legte sich aber auf eine
entsprechende Kopfbewegung des Bürgermeisters,
als das friedvolle Lied:
„Guter Mond, du gehst so stille" —
seine Weihe über die erregten Gemüter goß.
Es war ein großer Augenblick, als von den jugend-
lichen Sitzplätzen die Bitte erscholl: „Die Träne!
Oh, die Träne!"
Mamsell Lavinia, von so viel Bewunderung er-
weicht, setzte sich noch einmal nieder, griff abermals
in die Saiten und versetzte ihre Verehrer durch
die „aufgesaugte Tränenperle" in einen unbeschreib-
lichen Zustand hoffnungsvollen Wehs.
Der Bürgermeister, der von Musik so viel ver-
stand wie ein Grashüpfer, drückte gleichwohl seinem
Schwager beglückwünschend die Hand. Dieser aber,
noch verschwollen und scheckig im Gesicht, bearbeitete
bei sich weit mehr sein böses Gewissen den an-
wesenden drei Ärzten gegenüber, als daß er der
großmütterlichen Fliederlaube gedachte. Nichts-
destoweniger nahm er alle Huldigungen mit einem
schiefen Lächeln und dem Bewußtsein hin, dem
jungen Wostermann als Beckmoders Neffen etliche
Höflichkeiten wegen der Verschwiegenheit schuldig zu
sein.
Er faßte also den Entschluß, seine Tochter Lavinia
durch ihn zu Tisch geleiten zu lassen und das Gedeck,
ganze zehn gute Groschen, für ihn zu bezahlen.
Inzwischen erzitterte auf dem ehrwürdigen
Spinett das „Gebet einer Jungfrau", in dessen
Tönen Herr Provisor Pulvermacher Kraft und Ge-
fühlstiefe offenbarte und insbesondere Lorchens
Herz in wundersamer Sehnsucht erbeben machte.
Um endlich auch dem Frohsinn sein Recht zu
gönnen, ging Körners „Nachtwächter" über die
Bretter, lautes Lachen, schallende Heiterkeit er-
weckend. Das Tuten auf dem Brunnenhäuschen,
die Krone der Vorstellung, rief tosenden Beifall
hervor, man bejubelte das ungelenke Spiel der vier
Darsteller, nahm auch keine Notiz von Röschens
einmaligem Steckenbleiben — man war dankbar
und zufrieden.
Die Bürgermeisterin, als erste von ihrem Stuhl
aufstehend und so gewissermaßen die Erlaubnis er-
teilend, sich zu erheben, wandte sich ihrer Schwester
zu. „Es wird schicklich sein, den jungen Moselbach
unserer guten Lavinia als Tischnachbarn zu geben.
Er hat sich sehr verdieut gemacht und kann diese
Auszeichnung beanspruchen."

Die runde Frau Suse, in ihrem rotbraunen
Seidenkleid einer reifen Kastanie ähnelnd, eilte
sofort ihrem Gatten entgegen, der sich eben von
Doktor Lidersang zu dem herrlichen Erfolg seiner
ärztlichen Vorschriften beglückwünschen ließ, und
wisperte ihm die erhaltene Weisung ins Ohr.
Aber unbeschreiblich war ihr Erstaunen, als
seine geschwollene Backe in fleckigem Rot ent-
flammte und sein noch verdicktes Augenlid nervös zu
zwinkern begann.
„Jette soll sich —" Er verschluckte, was ihm auf
der Zunge lag, und tippte dafür an seine in Mit-
leidenschaft gezogene Nase. „Der junge Woster-
mann —" Die Ungeheuerlichkeit seiner Wahl er-
schreckte ihn selbst, aber die Macht des Geheimnisses
war stärker. Er log sich also tapfer durch. „Der
junge Wostermann," wiederholte er hastig, „hat
seinen Besuch gemacht. Einladen zu uns will ich
ihn fürs erste nicht, so füttere ich ihn lieber hier
mit ab."
„Aber Lavinia?" Die Augen der Frau Syndikus
öffneten sich weit vor Staunen.
„Lavinia futtert neben ihm. Und wem das
nicht genehm ist, der kann —"
„Leberecht," slüsterte Frau Susanne, „was ist
mit dir? Wo du Lidersang so viel Dank schuldig
bist, willst du —"
Sie trat einen Schritt zurück vor dem Laut, der
über seine Lippen glitt. Wie ein erkitzeltes Lachen
klang er und wie das Zornfauchen eines borstigen
Katers.
„Was aber wird Lavinia sagen?" murmelte Frau
Suse, in ihrer Angst nach rückwärts schauend, wo
die Bürgermeisterin neben ihrer ruhmgekrönten
Nichte Huldigungen einsammelte. „Es hätte doch
auch Lorchen sein können."
„Hätte — hätte!" sagte er gereizt und unge-
duldig. „Ich hätte auch jetzt noch rasen können
vor Schmerzen, hätte vor Wut auf dem Kopf stehen
können! — Guten Abend, junger Medikus!" rief
er Wostermann entgegen, der sein Kompliment an-
zubringen im Begriff war. „Sie sollen heute
mein Gast sein und meine Tochter zu Tisch führen."
„Ich soll wirklich den Vorzug haben, Mamsell
Hirsinger zu Tisch zu geleiten?" fragte Wostermann
aufs äußerste überrascht.
„Haben — jawohl!" sagte der Syndikus, dem
die Sache jetzt doch anfing bedenklich zu werden.
„Dann dürfte ich also — ich werde sofort —"
Da er den Beweggrund nicht kannte, überkam
den jungen Mann eine Eitelkeitsanwandlung, welche
diese Bevorzugung seiner Persönlichkeit zuschrieb.
Elastischen Schrittes eilte er durch die Gruppen
hindurch, die erwartungsvoll den Augenblick er-
harrten, Herrn Ducker den Beginn der Mahlzeit
ankündigen zu hören.
Ungeachtet der abweisenden Blicke der Bürger-
meisterin, die dem Kranze der Verehrer ihrer Nichte
wohlwollende Huld zuwandte, näherte sich Woster-
mann jetzt Lavinia und sagte: „Mamsell Hirsinger,
Ihr Herr Vater hat mir die Ehre gegeben, Ihr
Tischgenosse sein zu dürfen. Ich hoffe, daß Ihnen
seine Wahl genehm ist."
Die Gesichter der Umstehenden waren in ihrer
Unwillensäußerung nichts gegen den Sturm, der
Frau Poghammers Züge durchwetterte. Sie sah
auf ihre zerknirschte Schwester wie der Falke auf
die Taube.
„Ich kann nichts dafür," deuteten Frau Suses
gesenkte Wimpern an.
Lavinia selbst hatte diese väterliche Wahl zuerst
wie eine Kränkung ihrer gefeierten Person emp-
funden, aber das schöngeschnittene Gesicht des ihr
Aufgedrungenen und die ruhige Sicherheit seiner
Haltung verfehlten nicht, den Anreiz, welchen sie
schon zuvor empfunden, noch lebhafter zu ge-
stalten. Sie neigte demnach das blonde Haupt
mit den schmachtenden Locken, ja, sie erwiderte sogar
seine tiefe Verbeugung mit einer ähnlichen Äer-
neigung, wie Sitte und Wohlanstand es erforderten.
In diesem Augenblick erscholl Herrn Dückers
Stimme: „Ich bitte die hohen Herrschaften zu
Tisch!"
Der Syudikus, Frau Doktor Lidersang am Arm,
um sein Gewissen in etwas zu beschwichtigen,
machte, daß er als erster aus dem Saal kam, wäh-
rend Wostermann neben Lavinia abwartete, bis
der Strom sich verlaufen.
„Ich hoffe," sagte er und zwang sich, die rosa
Gestalt fesselnd und begehrenswert zu finden, „daß
die Güte Ihres Herrn Vaters mir in Mamsell
Hirsingers Augen nicht geschadet hat."
„Es ist kein Grund dazu vorhanden," erwiderte
sie, ihre Hand kaum spürbar auf seinen dargcbotenen
Arm legend.
„Und doch bin ich eine Art verfemter Gast hier,"
sagte er im Vorwärtsschreiten, „und von keinem
dieser Ehre für würdig befunden. Ja, ich glaube
 
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