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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 50.1915

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Heft 1
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Vas Luch für- Llle

liest 1

„Besten guten Morgen, Frau Bürgermeister,"
sagte Lorchen mit tiefem Knicks, der ihre niedlichen
Füße in den ausgeschnittenen Schuhen sichtbar wer-
den ließ. „Wünsche recht wohl geschlafen zu haben."
„Danke! Es war passabel."
Frau Henriette nahm auf dem hellgelben Birken-
holzsofa Platz, daneben setzte sich der Bürgermeister
und ihr gegenüber Mamsell Lorchen.
„Poghammer," sagte Frau Henriette, ihm zwei
gestrichene Semmeln gleichsam als sein Deputat
auf den Teller legend, „hast du dich erkundigt, ob
es wahr ist, daß der tolle Beckmoder einen Neffen zu
bleibendem Aufenthalt hat hierher kommen lassen?"
„Er hat, Jettchen!"
„Weiter hast du nicht uachgefragt?" sagte Frau
Henriette etwas schärfer. „Wenn wir nicht mehr
wissen sollten von Leuten, die sich hier ansässig
machen wollen, dann —"
„Doch, Jettchen! Er soll ein hübscher Mensch
sein und was Apartes an sich haben. Wenn ich ihn
sehe, werde ich ihm schon auf den Zahn fühlen."
Damit glaubte Herr Christian allen Ansprüchen
genügt zu haben und biß wacker in seine
Semmel.
„Poghammer," enttäuschte ihn seine
Gattin, „ich habe gestern erfahren, daß er
ein naseweiser Bursch ist, ein leichtsinniger
Hansdampf."
„Wirklich?"
„Die Doktorfrauen haben mich be-
schworen, ihn wieder fortzuschaffen. Also,
ich wünsche dringend, daß du die Macht
deines Amtes gebrauchst. Der alte Beck-
moder ist nicht viel besser als ein Kannibale
und sein Neffe —"
„Jettchen," fiel Herr Poghammer zag-
haft ein, „ich kann niemand ausweisen, der
sich nichts zuschulden kommeü ließ. Der
junge Mann wird sich dir ja vorstellen.
Bielleicht kannst du ihn im Wohltätigkeits-
konzert verwenden."
„Danke!" sagte Frau Henriette, maje-
stätisch die Haube schüttelnd. „Wir nehmen
nicht jeden."
Mamsell Lorchens Augen waren bei den
Worten „hübscher Mensch" schüchtern auf-
gestrahlt, begaben sich aber bei Frau Hen-
riettes abweisender Miene allsogleich wieder
in den Schutz der dunklen Wimpern zurück.
„Es ist ja noch gar nicht erwiesen,"
warf Herr Poghammer besänftigend ein,
„daß er hier praktizieren will. Der Alte
hat ihn sich vielleicht eine Weile zur Gesell-
schaft kommeu lassen, er haust doch so allein
wie ein Uhu!"
„Poghammer," sagte Frau Jettchen,
ihre große Tasse nochmals füllend, „du
kennst die Menschen vielleicht, wenn du
sie siehst, ich kenne sie, wenn ich sie noch
nicht gesehen habe."
Diese hellseherische Fähigkeit seiner Gat-
tin blieb Herrn Poghammer wie ein Krümel
im Halse stecken. Er hustete anhaltend.
„Du ißt zu schnell," sagte Frau Hen-
riette, mütterlich verweisend. „Tu stopfst —
sage nicht nein, Poghammer! Du schluckst
immer zu hastig drauf los. Darum gedeiht
dir auch nichts zu Speck."
Die Wahrheit dieser Behauptung lag auf der
Hand. Er verstummte.
„Räume ab, Lorchen!" sagte Frau Jettchen aus-
trinkend, nachdem sie den Rest in der Tasse ein paar-
mal herumgeschwenkt hatte. — „Du hast heute
Sitzung, Poghammer. Erkundige dich, wie es
Leberccht Hirsinger mit seinem Kopfreißen geht.
Susanne sagte mir gestern, er quäle sich die Seele
aus dem Leibe. Doktor Lidersang hat ihm jetzt
ein Pflaster verordnet ins Genick."
„Ter arme Herr Syndikus!" sagte Lorchen voller
Mitgefühl.
Da gellte die Flurklingel. Ter Bürgermeister
raffte die Schöße seines Schlafrocks zusammen und
entwich ins Nebenzimmer.
Die Tür flog auf, und Frau Hirsingers kugclruude
Gestalt erschien auf der Schwelle. Hinter ihr, lang
und schlank, tauchte Fräulein Lavinias hochblonde
Erscheinung auf. Sie trug lange Locken an beiden
Kopfseiten, durch Schildpattkämme an den Schläfen
festgehalten, einen dunkelgrünen Hut in Schaufel-
form über der Stirn und einen gleichfarbigen
Mantel mit enger Taille um die schmalen Schultern.
„Jette," rief die runde Dame, sich in die Sofa-
ecke werfend, „ich sage dir, jetzt sind wir am Ver-
rücktwerden. Die ganze Nacht hat Leberecht herum-
getobt. Das Pflaster von Lidersang hat ihm bloß
noch Blafen dazu gezogen. Wenn er kaum im Bett
lag, sprang er wieder heraus, war er draußen,
sprang er wieder hinein. Manchmal glaubte ich,

er käme mit dem Kopf zuerst auf die Dieleu. Mein
schwarzes Katzenfell hat er zum Fenster hinausge-
worfen, und das Brechmittel, das ich ihm geben
wollte, wegen der heilsamen Erschütterung des
Körpers, hat er voller Wut — na, ich will lieber
nicht sagen wohin, gegossen."
„Schwitzen!" sagte Frau Henriette nachdrücklich.
„Eher will er sich im Backofen verbrennen, sich
sogar lieber die Haut abziehen lassen,"' rief die
gekränkte Gattin aufschnellend. „Lavinia wollte
ihm eines ihrer schönsten Lieder singen, da raste er
wie ein angeschossener Löwe aus dem Zimmer,
daß das Wandbrett beinahe vom Nagel fiel. Und
morgen ist die Aufführung! Lavinia hat ein so
himmlisches Kleid! — Na, Lorchen, wie geht's?"
Lorchen hatte draußen in aller Eile über ihr
blaues Kamelottkleid eine karierte Schürze gebunden
und dem engen Ärmelbund und Halsausschnitt
weiße Manschetten und einen Klappkragen angefügt.
Bescheiden errötend reichte sie Mutter und Tochter
die Hand.
Lavinia ließ ihre meerfarbencn Augen kalt über

das liebliche Geschöpf gleiten, dem das schönste
blonde Haar in dicken Zöpfen sich um den Kopf
fchlang, ein paar widerspenstige Löckchen ausge-
nommen, die sich in die glatte Frisur nicht fügen
wollten.
„Wird Lorchen auch tanzen?" fragte Lavinia
die Bürgermeisterin etwas von oben herab.
„Wenn sie Tänzer bekommt, mag sie. Sonst
schadet es ihr auch nichts, wenn sie die Füße ruhig
hält," sagte Frau. Jettchen kurzweg.
„Was wird sie denn anziehen, wenn man fragen
darf?" setzte Lavinia das Examen lächelnd fort.
„Mein Polterabendkleid," sagte die Bürgermeiste-
rin gewichtig.
Sie hatte sich in der Tat einen Stoß gegeben
und aus dem Bauche einer alten Truhe das weiße
Kleid mit den großen, roten Mohnblumen heraus-
gefischt, viel zu eng für den Reifrock und in der
Taille mit lauter Schnüren zusammengehalten wie
ein Wickelkind.
Lavinia verbiß mühsam ein Lachen.
„Es ist ein Geschenk," fuhr Frau Henriette wohl-
gefällig fort. „Lorchen hat sich's zurechtgemacht."
In diesem Augenblick kam das Stadtoberhaupt
ins Zimmer zurück im braunen, langen Rock mit
blanken Knöpfen, darunter eine geblümte Samt-
weste und enge, blau und weiß gestreifte Beinkleider.
„Poghammer," rief Frau Jettchen, nach der
gewaltigen Standuhr sehend, die soeben zum
Schlage ausholte, „bist du deun noch nicht fort?"

„Ich gehe schon," sagte er und ging mit sanftem
Gruß aus der Tür.
„Ach, Jette," stöhnte die Frau Syndikus, „hätte
ich meinen Leberecht doch so gezogen wie du deinen
Christian. Der würde nicht ins Bett springen wie
ein Heuschreck und verkehrt wieder heraus wie ein
Frosch. ,Lavinia/ sage ich oft, ,nimm dir ein
Beispiel dran, geh bei deiner Tante Jette in die
Schule? Das Getue der Männer vor der Ehe ist
ja bloß ein Kosthäppchen, soliden Bestand hat es
nicht." Sie brach in Tränen aus. „Jette, in Groß-
mutters Haus — nein, im Garten, in der Flieder-
laube, da sagte er zu mir: /Mamsell Tuschen, nehmen
Sie geneigtest mein Herz an sich und schenken Sie
mir das Ihrige dagegen. Ich biete es Ihnen mit
diesem Ringe an? Auf dem Ring, Jette, war ein
Herz aus blauen Steinen — und jetzt, Jette, will er
sich den Kopf vor Wut abbeißen."
Die Frau Bürgermeisterin war aus anderem
Holze geschnitzt. Sie zog die Stirn in Falten.
„Suse," sagte sie, „das Heulen hier bei mir ist Unsinn.
Das spare dir für deinen Mann auf, wenn's ihm
einmal sehr unangenehm ist."
„Papa macht sich gar nichts aus Tränen,"
siel Lavinia trocken ein. „Seinetwegen
könnte Maina weinen, bis sie schwarz wird."
Lorchen machte einen scheuen Versuch,
die trübselige Stimmung zu verscheuchen.
„Mamsell Lavinia," sagte sie mit lieblichen:
Erröten, „hat vielleicht die Güte, uns eines
ihrer herrlichen Lieder vorzusingen, die
immer so rührend sind. Es ist, Mamsell
Lavinia kann es glauben, kein Neid, wenn
ich mir auch solch schöne Stimme wünschte."
„Wenn alle Leute schöne Stimmen
hätten," erwiderte Lavinia kühl lächelnd,
„würde man überhaupt nicht mehr von
schönen Stimmen sprechen können."
Nichtsdestoweniger setzte sie sich ans
Spinett, dessen dunkelgelb gewordene
Tasten einen ehrwürdigen Schnarrton von
sich gaben.
Mit sehr schlanken rind sehr weißen
Fingern brachte sie eine Art Gitarrebe-
gleitung zustande, die alle Zuhörerinnen
in milde Spannung versetzte.
Und dann erscholl, als wäre es auf die
ehelichen Nöte der Frau Syndikus gemünzt
gewesen, mit etwas dünner Stimme, aber
zeitgemäßem Gefühlsüberschwang das
Wonnelied aller empfindungsfähigen Seelen:
„Zerdrück die Träne nicht in deinem Auge,
Du hast die Träne ja um mich geweint.
Vergönne, daß ich diese Perle sauge,
Daß sie mit meinen Lippen sich vereint.
Wie macht die Träne dich so cngelschön —
Ich mvcht' dich ewig, ewig weinen sehn."
Bei diesem mit tremulierender Inbrunst
wiederholten, liebevollen Wunsch floß
Lorchens Seele in freigewordener Wehmut
überschwemmend dahin. Der Schlußsatz
„Oh, weine nicht, vor Gottes Traualtar
Flecht' ich dir bald die Myrte in das Haar"
ließ sie die karierte seidene Schürze ergreifen
und gegen die tropfenden Wimpern drücken,
daß niemand sähe, welch süße Schmerzen
dieses Tastengezirpe in ihr auslöste.
Auch Frau Susanne, ihren ehelichen
Heuschreck vergessend, gedachte mit kullernden Tränen
der großmütterlichen Fliederlaube, wo sie den ersten
Kuß nebst dein blaugesteinten Ring empfing, und
seufzte zum Erbarmen in den Gesang hinein.
Nur die Bürgermeisterin veränderte ihre er-
habene Ruhe nicht, obwohl auch an ihr die for.k;e-
saugte Perle nicht spurlos vorübergegangen war. Sie
stand auf und umarmte Lavinia. „Wenn du uicht die
Catalani iu der Kehle stecken hast, will ich keinen
Topf mehr ans Feuer setzen. Morgen abend —"
Es läutete draußen.
„Wer ist's?" riefen alle vier Damen dem ein-
tretenden Mädchen mit schroffem Übergang von
Wehmut zu Neugier gleichzeitig entgegen.
„Herr Doktor Wostermann!"
„Der Neffe des Totendoktors," flüsterte Lorchen
schrecksam.
„Also doch!" sagte die Bürgermeisterin mit
finsterem Nachdruck.
Beckmoder behielt recht. Die Neugier war
stärker als die Abneigung. Alle drei Damen be-
stürmten die Hausfrau, den unliebsamen Besuch
herein zu nötigen.
„In die gute Stube also!" sagte Frau Henriette.
„Ich komme gleich. — Lorchen!"
Lorchen sprang schon ins Nebenzimmer, riß die
Schutzdecken vom Sofa und den Stühlen herunter,
hob die Hülle von dem Stoffblumenbukett auf dem
Tische, zog die Vorhänge zurück und legte mit flie-
gender Hast den Teppich auseinander.

koeppel. (5. 10)
 
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