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Er sah nicht die häßliche Winterkappe aus brauner
Mooswolle, er sah nur das süße, rosige Gesichtchen
aus dieser dunklen Umrahmung hervorleuchten, die
schönen, dunkelblauen Augen, die so harmlos in
die Welt hineinschauten, als gäbe es darin nichts
von Härte, Ungerechtigkeit und Neid.
Nur grüßend vorüberzugehen, wäre ihm un-
möglich gewesen, ebensowenig dachte er an die
bösen Zungen etwaiger Klatschbasen. Er stand also
still vor der saust Errötenden.
„Das nenne ich Glück haben," sagte er und
streckte ihr die Hand entgegen, in die sie schüchtern
ein paar Fingerspitzen legte. „Man könnte es einen
Frühlingsgruß neunen."
„Ach nein," sagte Lorchen, ihren unschönen
Muff betrachtend, „vor Mai ist hier von Frühling
nicht viel zu bemerken. Zu Pfingsten, wenn wir
uns die jungen Maien abschneiden und Kalmus aus
dem See holen, dann wird's erst schön, eher nicht."
Er ließ ihre Helle Stimme auf sich wirken, darum
unterbrach er sie nicht.
„Dann gibt's auch eine Landpartie," fuhr sie
fröhlich fort, „am dritten Feiertag. Oh, wie hübsch
da alle Leiterwagen bekränzt werden! Die Stadt-
musikanten fahren auch mit. Erst Kaffee im Grünen
und dann Tanz im Freien."
Das war ihre ganze Jugendfreude! Es schmerzte
und ergrimmte ihn. Untenan gesetzt und zurückge-
schoben, verstreute sie ihre Anmut ganz umsonst und
ungeschützt.
„Mamsell —" er wollte sagen „Himberlich" —
aber „Mamsell Lorchen," sagte er, einen Schritt näher
tretend, „haben Sie meinen Wunsch erfüllt?"
„Welchen?" fragte sie aufblickend.
„Sich vor den Spiegel zu stellen und ein biß-
chen sachverständige Kritik zu üben?"
Sie ward feuerrot. Da wußte er, daß sie es
getan hatte.
Scheu und langsam hatte sie spät abends den
Leuchter genommen und in das viereckige Stück
Glas gesehen, das notdürftig noch ihre weiße
Schulter zeigte. Und da hatte sie die heißen Wangen
zwischen dem schon gelösten Haar recht hübsch ge-
funden und die dunklen Brauen auf der weißen
Stirn sehr ansprechend. Dessen schämte sich Lorchen
jetzt in dem Gedanken, daß Wostermann sie solcher
Eitelkeit für fähig halten konnte, und sie drückte
verlegen den Muff an ihre Lippen.
„Ich habe also doch recht behalten," sagte er
leiser. „Nicht?"
„Was habe ich denn davon?" fragte sie, ohne
aufzusehen.
„Was Sie davon haben? Das Bewußtsein Ihrer
jugendfrischen Schönheit. Ist das nichts? Was Tau-
sende mit allen Mitteln nicht erkaufen können, das
hat Ihnen die Natur verschwenderifch in den Schoß
geschüttet. Ja, ja — sehen Sie mich nur daraus
an! Ich möchte Sie gern etwas aufrütteln aus
Ihrer grundlosen Bescheidenheit und —"
Es fiel ihm ein, daß er selbst ja Lavinia Hirsinger
aus Vernunftgründen sehr bewußt vorgezogen
hatte. Er sprang deshalb von diesem Thema ab.
„Wohin führt Sie denn Ihr Weg so früh am
Tage?" suhr er fort.
„Nicht früh," sagte sie freundlich aufschauend.
„Ich habe der Frau Bürgermeisterin schon alles zur
Hand gelegt, damit sie mich nicht vermißt. Ich
will auf den Kirchhof gehen."
Sie zog aus dem gelblichen Muffungetüm, in
das sich sechs Hände hätten verkriechen können,
eine Papiertüte hervor und öffnete den Verschluß
ein wenig. Hübsch gearbeitete künstliche Rosen staken
darin und nahmen sich im Gegensatz zu ihrem
häßlichen Aufbewahrungsort wahrhaft frühlings-
mäßig aus.
„Für meiner Mutter Grab."
„Oh —" sagte er, um irgend etwas Teilnehmen-
des zu äußern.
„Der Hügel sieht gegen die anderen immer so
kahl aus. Aber wenn ich die Rosen in den Efeu
gesteckt habe, dann ist er der hübscheste von allen."
„Selbstgemacht?" fragte er, und das Gefühl
warmen Mitleids erfaßte ihn von neuem.
„Freilich!" sagte Lorchen mit reizendem Stolz,
ihren braunen Wollhandschuh abstreifend und ein
Exemplar ihrer Kunst in die Höhe haltend. „Ich
bekomme sie recht gut bezahlt. Nur bleibt mir
nicht viel Zeit zu dieser Arbeit — manchmal des
Nachts, wenn ich mir eine Kerze gekauft habe. —
Mögen Sie künstliche Blumen?" Sie senkte vor
Staunen über ihre eigene Kühnheit die langen
Wimpern. „Ich würde gern —"
„Mamsell Lorchen," sagte er, und es schoß ihm
wieder heiß zum Herzen, „wenn Sie mir auch nur
eine Sekunde Ihrer Nachtruhe opfern wollten —"
Der Nachsatz blieb ihm auf der Zunge stecken. „Ich
wollte fagen, daß in Ihren Jahren die Nachtruhe
so ungestört wie möglich sein muß. Geben Sie mir
"" Vg5 Luch für MIe 7.m
die Hand darauf, daß Sie keine Kerze mehr kaufen
und sich keine Stunde Schlaf mehr entziehen wollen."
Ihre unbehandfchuhte Rechte machte einen
schüchternen Versuch dazu. Dafür kam er mehr
als Halbwegs entgegen, indem er die scheuen Finger
ergriff und fest in die seinen schloß.
„Mamsell Lorchen," sagte er und nötigte sie
durch seinen beharrlichen Blick, die Augen wieder
zu ihm aufzuschlagen, „wir können uns oft über
unsere Empfindungen keine Rechenschaft ablegen,
wir müssen sie auf Treu und Glauben hinnehmen
— meinen Sie nicht?"
„Ich habe noch nie darüber nachgedacht," flüsterte
sie verlegen.
„Also denken Sie jetzt darüber nach, ob Sie
die Empfindung haben, daß —"
Sie zwinkerte in ihrer Verlegenheit so allerliebst
mit den Lidern, daß er nie etwas Reizenderes
gesehen zu haben glaubte.
„Daß es Sympathien gibt?" schloß er schnell.
Dieser unlogische Satzschluß überraschte ihn selbst.
„Ich meine," fuhr er fort, „es gibt Empfindungen
für und gegen Menschen, die mit zu den Seelen-
rätseln gehören, sie treten auf wie der Blitz."
„O ja, man mag jemand, oder man mag ihn
nicht," sagte Lorchen mit sanftem Erröten.
„Richtig. Man weiß aber nicht warum. Wie
war es denn nun, als Sie mich zum ersten Male
sahen?" Er suhlte, daß er auf glatten Boden trat,
aber die Versuchung war stärker. „Den Neffen des
Totendoktors?" fuhr er lächelnd fort. „Den ver-
rufenen Eindringling? War Ihnen nicht schauerlich
zumute?"
„O nein!" sagte Lorchen mit einer Aufrichtigkeit,
die sich in jedem Zuge ihres Gesichtchens wider-
spiegelte. „Aber gar nicht!"
„Sehen Sie, das ist Sympathie. Und wie ich
Sie vor dem Posthause stehen sah —"
War er denn bei Sinnen, sich von zwei blauen
Augen rettungslos verführen zu lassen?
„Da dachte ich gleich," schloß er, „daß an hüb-
schen, jungen Stadttöchtern hier kein Mangel sei."
Ganz unbewußt hatte sie Wohl etwas anderes
erwartet, denn sie steckte die Rose in ihre Hülle
zurück und zog den braunen Handschuh langsam
wieder über dw Finger. „Ich habe jetzt keine Zeit
mehr," sagte sie leise, „und muß adieu sagen."
Er war nun wieder Herr seiner selbst. „Recht so.
Wenn wir hier noch lange stillsteheu, frieren wir an.
Leben Sie also wohl, Mamsell Lorchen, und denken
Sie an das, was Sie versprochen haben."
Als er ein Stück Weges gegangen war, blieb
er stehen und sah ihr nach. So allerliebst trippelte
sie über den harten Boden, und das Reifröckchen
wippte dabei, als ob es Lust hätte, mit dem lieblichen
Geschöpf auf und davon zu fliegen. Seine Brauen
zogen sich nachdenklich zusammen. Warum sollte es
eigentlich unmöglich sein, dieses Lorchen heimzu-
führen? Sein Oheim hatte Geld, viel Geld sogar
mußte er haben, und er, als einziger Verwandter,
war doch sein Erbe!
Wenn der Alte vielleicht jetzt schon einen Teil
dieses Erbes hergab? Es wäre nur ein Akt der
Gerechtigkeit gewesen, ihm zu einer selbständigen
Stellung zu verhelfen, denn nur so konnte er sich
unter den Kollegen hier behaupten.
Mit diesen Gedanken legte er, die alberne Hasen-
geschichte dabei aus dem Gedächtnis verlierend,
die letzte Strecke zum glichen Hause zurück.
Abel Wasmut fegte den Flur und trat demütig
zur Seite. „Der Herr Doktor ist schlimmer Laune,"
raunte er mit einem Anflug von Vertraulichkeit
dem jungen Manne zu. „Der alte Kummer war
wieder hier — die Frau will ihm sterben. Ganz
laut hat er hier im Flur gejammert. Er ist aber
hinausgeworfen worden."
„Seine Sache," sagte Wostermann kurz und trat
in Beckmoders Zimmer.
Das Wintersonnenlicht gab selbst diesem uner-
quicklichen Raume ein freundliches Aussehen. Über
den schweren, vierkantigen Schreibtisch mit seinem
vielfächerigen Aufsatz warf es eine Goldgarbe, darin
der zerarbeitete und tintenstarrende Lederbezug seine
Häßlichkeit zu verlieren schien.
„Guten Tag, Oheim!" sagte Wostermann, zu
ihm tretend.
Der Alte knurrte etwas, indem er das Buch,
darin er Zahlen von ungewöhnlicher Größe einge-
tragen hatte, mürrisch zuklappte und die Gänse-
feder auf die Tischplatte warf.
Wostermann erzählte Hergang und Verlauf des
Duells.
Beckmoder grunzte ein paarmal in sich hinein.
Unwirsch schloß er das Buch ins Schubfach und schob
den Schlüssel in die Tasche seiner dicken Flanellhose.
„Wem's Vergnügen macht, den Narren zu
spielen," brummte er vor sich hin, „dem soll man
Schellenkappe und Holzschwert nicht aus der Hand
.. ..59
nehmen. Der Hase hat seine Sache von allen am
besten gemacht."
„Oheim —" Wostermann schluckte den Hohn mit
guter Haltung hinunter — „ich hatte die Absicht,
ein paar gutgemeinte Worte, einen wohlverständ-
lichen Gedanken, einen Wunsch meinerseits mit
Ihnen zu erörtern. Es würde mir lieb sein, wenn
Sie mir Ihre Aufmerksamkeit zuwenden wollten. Es
ist für einen Mann immerhin schwer, als Bittsteller
zu erscheinen, wenn auch in diesem Fall die nahe
Verwandtschaft Mißverständnisse ausschließen sollte."
Beckmoders Lippen zogen sich fest zusammen
wie die Schnur eines Geldbeutels. Er sagte nichts.
Wostermanns Natur war elastisch genug, gleich-
mütig fortfahren zu können: „Es war doch Ihre
Absicht, mich hier ansässig zu machen, sonst hätten
Sie mich in meiner Heimat lassen können, wo die
Aussichten für mein Fortkommen den hiesigen
mindestens gleichkamen. Ich habe mich Ihnen
bereitwillig und vertrauensvoll in die Hand gegeben.
Daß ich als Ihr Neffe einen schwereren Stand hier
haben würde als jeder andere, war Ihnen auch be-
wußt, und daß die Praxis, die Sie mir zuweisen, zu-
vörderst keine Grundlage für Unabhängigkeit und
Selbständigkeit geben kann, das wissen Sie ebenfalls."
Der Alte kniff jetzt auch noch die Augen zu-
sammen und gab seinem Gesicht einen gänzlich ver-
sagenden Ausdruck. Aber er erwiderte kein Wort.
Wostermann bezwang seine Ungeduld, zog einen
Stuhl herbei und setzte sich ihm gegenüber.
„Ich hoffe," sagte er, „Sie werden in mich die
Zuversicht setzen, daß ich Ihrem Wohlergehen das
höchst erreichbare Ziel gönne und wünsche, daß
ich es als eine mir zugefallene Aufgabe betrachte,
Ihren Lebensabend meinen Kräften gemäß zu
verschönern, wie es eben nur ein nächster Ver-
wandter zu tun imstande ist. Von diesem Standpunkt
aus, der zwischen uns eigentlich nicht erst qrörtert
zu werden brauchte, werden Sie meine Bitte ver-
stehen und, wie ich zuversichtlich hoffe, erfüllen."
Wenn das, was Beckmoder über die Lippen
glitt, ein Wort war, so klang es wie „Aha!"
„Ihre außergewöhnliche Tätigkeit, Oheim, hat
Sie zum wohlhabenden Mann gemacht —"
„Hast du schon in meinen Geldbeutel hinein-
gesehen?" warf der Alte kurz dazwischen.
„Es ist bekannt, Oheim, und Sie haben das
Recht, stolz darauf zu sein," sagte Wostermann be-
sänftigend. „Und darum richte ich an Sie die
Bitte, mir von Ihrem Vermögen schon zu Lebzeiten
einen Teil abzutreten, damit ich fähig bin, mir eine
Häuslichkeit zu gründen, die zugleich, wie ich nicht
erst zu versichern brauche, die Ihrige sein würde."
Der Totendoktor öffnete die zusammengekniffe-
nen Augen weit genug, um dem Sprecher einen
funkelnden Seitenblick zuzufenden. „Also berauben
willst du mich? Bei Lebzeiten schon ausplündern?"
Wostermanns Blut regte sich. „Fassen Sie
eine arglose Bitte doch nicht wie ein Verbrechen
auf!"
„Weiber! Weiber! Immer die Weiber!" rief
der Alte, seinem karierten Beinkleid einen Schlag
versetzend. „Wo eine Dummheit zutage kommt,
steckt ein Reifrock dahinter. Es kann keine Nichts-
nutzigkeit in der Welt geschehen, ohne daß eine Zopf-
trägerin —"
„Oheim," unterbrach ihn Wostermann mit flam-
mender Röte, „ich kann es eines Mannes nicht für
würdig halten, die Frau, die ihn geboren und erzogen
hat, in solcher Weise herabzusetzen — Aber," fuhr
er sich bezwingend fort, „das ist eine Abschweifung,
die uns vom Ziel entfernt. Wenn Sie die Erfahrung
für sich zu haben glauben, im Junggesellentum den
Hort der Behaglichkeit und Befriedigung zu finden,
so dürfen Sie diese Anschauung nicht verallgemeinern
und das natürliche Sehnen nach einem häuslichen
Herd mit dem Wort Dummheit belegen."
Beckmoder nickte wie eine Pagode, als ob in
seinem Genick ein Scharnier sich gelöst habe.
„Sehen Sie, lieber Oheim," half Wostermann
noch einmal überredend nach, „was in Ihrem Alter
nichtsbedeutend ist, das Unverheiratetsein, wird für
meine fünfundzwanzig Jahre verhängnisvoll. Die
Familienväter nehmen Anstoß daran, ja, es wird
in kleinen Städten für unschicklich gehalten, sich
einem unbeweibten Arzt in die Hände zu geben.
Schon von diesem Gesichtspunkt aus ist es dringend
geboten, daß Sie mir die Möglichkeit geben, eine
Frau heimzuführen, auch wenn sie kein Ver-
mögen hat."
Der Alte hielt mit Nicken inne. „Höre, Neffe,"
sagte er langsam und nachdrücklich, „deine Gesichts-
punkte und Standpunkte und sonstigen Punkte ver-
fangen bei mir nicht. Ich habe meiner Aufforde-
rung an dich nicht den Wunsch zugrunde gelegt,
ausgebeutelt oder mit Verpflichtungen bombardiert
zu werden. Ich habe dir Wohnung und Kost geboten
und den Abfall meiner Praxis. Frauenzimmer-
Er sah nicht die häßliche Winterkappe aus brauner
Mooswolle, er sah nur das süße, rosige Gesichtchen
aus dieser dunklen Umrahmung hervorleuchten, die
schönen, dunkelblauen Augen, die so harmlos in
die Welt hineinschauten, als gäbe es darin nichts
von Härte, Ungerechtigkeit und Neid.
Nur grüßend vorüberzugehen, wäre ihm un-
möglich gewesen, ebensowenig dachte er an die
bösen Zungen etwaiger Klatschbasen. Er stand also
still vor der saust Errötenden.
„Das nenne ich Glück haben," sagte er und
streckte ihr die Hand entgegen, in die sie schüchtern
ein paar Fingerspitzen legte. „Man könnte es einen
Frühlingsgruß neunen."
„Ach nein," sagte Lorchen, ihren unschönen
Muff betrachtend, „vor Mai ist hier von Frühling
nicht viel zu bemerken. Zu Pfingsten, wenn wir
uns die jungen Maien abschneiden und Kalmus aus
dem See holen, dann wird's erst schön, eher nicht."
Er ließ ihre Helle Stimme auf sich wirken, darum
unterbrach er sie nicht.
„Dann gibt's auch eine Landpartie," fuhr sie
fröhlich fort, „am dritten Feiertag. Oh, wie hübsch
da alle Leiterwagen bekränzt werden! Die Stadt-
musikanten fahren auch mit. Erst Kaffee im Grünen
und dann Tanz im Freien."
Das war ihre ganze Jugendfreude! Es schmerzte
und ergrimmte ihn. Untenan gesetzt und zurückge-
schoben, verstreute sie ihre Anmut ganz umsonst und
ungeschützt.
„Mamsell —" er wollte sagen „Himberlich" —
aber „Mamsell Lorchen," sagte er, einen Schritt näher
tretend, „haben Sie meinen Wunsch erfüllt?"
„Welchen?" fragte sie aufblickend.
„Sich vor den Spiegel zu stellen und ein biß-
chen sachverständige Kritik zu üben?"
Sie ward feuerrot. Da wußte er, daß sie es
getan hatte.
Scheu und langsam hatte sie spät abends den
Leuchter genommen und in das viereckige Stück
Glas gesehen, das notdürftig noch ihre weiße
Schulter zeigte. Und da hatte sie die heißen Wangen
zwischen dem schon gelösten Haar recht hübsch ge-
funden und die dunklen Brauen auf der weißen
Stirn sehr ansprechend. Dessen schämte sich Lorchen
jetzt in dem Gedanken, daß Wostermann sie solcher
Eitelkeit für fähig halten konnte, und sie drückte
verlegen den Muff an ihre Lippen.
„Ich habe also doch recht behalten," sagte er
leiser. „Nicht?"
„Was habe ich denn davon?" fragte sie, ohne
aufzusehen.
„Was Sie davon haben? Das Bewußtsein Ihrer
jugendfrischen Schönheit. Ist das nichts? Was Tau-
sende mit allen Mitteln nicht erkaufen können, das
hat Ihnen die Natur verschwenderifch in den Schoß
geschüttet. Ja, ja — sehen Sie mich nur daraus
an! Ich möchte Sie gern etwas aufrütteln aus
Ihrer grundlosen Bescheidenheit und —"
Es fiel ihm ein, daß er selbst ja Lavinia Hirsinger
aus Vernunftgründen sehr bewußt vorgezogen
hatte. Er sprang deshalb von diesem Thema ab.
„Wohin führt Sie denn Ihr Weg so früh am
Tage?" suhr er fort.
„Nicht früh," sagte sie freundlich aufschauend.
„Ich habe der Frau Bürgermeisterin schon alles zur
Hand gelegt, damit sie mich nicht vermißt. Ich
will auf den Kirchhof gehen."
Sie zog aus dem gelblichen Muffungetüm, in
das sich sechs Hände hätten verkriechen können,
eine Papiertüte hervor und öffnete den Verschluß
ein wenig. Hübsch gearbeitete künstliche Rosen staken
darin und nahmen sich im Gegensatz zu ihrem
häßlichen Aufbewahrungsort wahrhaft frühlings-
mäßig aus.
„Für meiner Mutter Grab."
„Oh —" sagte er, um irgend etwas Teilnehmen-
des zu äußern.
„Der Hügel sieht gegen die anderen immer so
kahl aus. Aber wenn ich die Rosen in den Efeu
gesteckt habe, dann ist er der hübscheste von allen."
„Selbstgemacht?" fragte er, und das Gefühl
warmen Mitleids erfaßte ihn von neuem.
„Freilich!" sagte Lorchen mit reizendem Stolz,
ihren braunen Wollhandschuh abstreifend und ein
Exemplar ihrer Kunst in die Höhe haltend. „Ich
bekomme sie recht gut bezahlt. Nur bleibt mir
nicht viel Zeit zu dieser Arbeit — manchmal des
Nachts, wenn ich mir eine Kerze gekauft habe. —
Mögen Sie künstliche Blumen?" Sie senkte vor
Staunen über ihre eigene Kühnheit die langen
Wimpern. „Ich würde gern —"
„Mamsell Lorchen," sagte er, und es schoß ihm
wieder heiß zum Herzen, „wenn Sie mir auch nur
eine Sekunde Ihrer Nachtruhe opfern wollten —"
Der Nachsatz blieb ihm auf der Zunge stecken. „Ich
wollte fagen, daß in Ihren Jahren die Nachtruhe
so ungestört wie möglich sein muß. Geben Sie mir
"" Vg5 Luch für MIe 7.m
die Hand darauf, daß Sie keine Kerze mehr kaufen
und sich keine Stunde Schlaf mehr entziehen wollen."
Ihre unbehandfchuhte Rechte machte einen
schüchternen Versuch dazu. Dafür kam er mehr
als Halbwegs entgegen, indem er die scheuen Finger
ergriff und fest in die seinen schloß.
„Mamsell Lorchen," sagte er und nötigte sie
durch seinen beharrlichen Blick, die Augen wieder
zu ihm aufzuschlagen, „wir können uns oft über
unsere Empfindungen keine Rechenschaft ablegen,
wir müssen sie auf Treu und Glauben hinnehmen
— meinen Sie nicht?"
„Ich habe noch nie darüber nachgedacht," flüsterte
sie verlegen.
„Also denken Sie jetzt darüber nach, ob Sie
die Empfindung haben, daß —"
Sie zwinkerte in ihrer Verlegenheit so allerliebst
mit den Lidern, daß er nie etwas Reizenderes
gesehen zu haben glaubte.
„Daß es Sympathien gibt?" schloß er schnell.
Dieser unlogische Satzschluß überraschte ihn selbst.
„Ich meine," fuhr er fort, „es gibt Empfindungen
für und gegen Menschen, die mit zu den Seelen-
rätseln gehören, sie treten auf wie der Blitz."
„O ja, man mag jemand, oder man mag ihn
nicht," sagte Lorchen mit sanftem Erröten.
„Richtig. Man weiß aber nicht warum. Wie
war es denn nun, als Sie mich zum ersten Male
sahen?" Er suhlte, daß er auf glatten Boden trat,
aber die Versuchung war stärker. „Den Neffen des
Totendoktors?" fuhr er lächelnd fort. „Den ver-
rufenen Eindringling? War Ihnen nicht schauerlich
zumute?"
„O nein!" sagte Lorchen mit einer Aufrichtigkeit,
die sich in jedem Zuge ihres Gesichtchens wider-
spiegelte. „Aber gar nicht!"
„Sehen Sie, das ist Sympathie. Und wie ich
Sie vor dem Posthause stehen sah —"
War er denn bei Sinnen, sich von zwei blauen
Augen rettungslos verführen zu lassen?
„Da dachte ich gleich," schloß er, „daß an hüb-
schen, jungen Stadttöchtern hier kein Mangel sei."
Ganz unbewußt hatte sie Wohl etwas anderes
erwartet, denn sie steckte die Rose in ihre Hülle
zurück und zog den braunen Handschuh langsam
wieder über dw Finger. „Ich habe jetzt keine Zeit
mehr," sagte sie leise, „und muß adieu sagen."
Er war nun wieder Herr seiner selbst. „Recht so.
Wenn wir hier noch lange stillsteheu, frieren wir an.
Leben Sie also wohl, Mamsell Lorchen, und denken
Sie an das, was Sie versprochen haben."
Als er ein Stück Weges gegangen war, blieb
er stehen und sah ihr nach. So allerliebst trippelte
sie über den harten Boden, und das Reifröckchen
wippte dabei, als ob es Lust hätte, mit dem lieblichen
Geschöpf auf und davon zu fliegen. Seine Brauen
zogen sich nachdenklich zusammen. Warum sollte es
eigentlich unmöglich sein, dieses Lorchen heimzu-
führen? Sein Oheim hatte Geld, viel Geld sogar
mußte er haben, und er, als einziger Verwandter,
war doch sein Erbe!
Wenn der Alte vielleicht jetzt schon einen Teil
dieses Erbes hergab? Es wäre nur ein Akt der
Gerechtigkeit gewesen, ihm zu einer selbständigen
Stellung zu verhelfen, denn nur so konnte er sich
unter den Kollegen hier behaupten.
Mit diesen Gedanken legte er, die alberne Hasen-
geschichte dabei aus dem Gedächtnis verlierend,
die letzte Strecke zum glichen Hause zurück.
Abel Wasmut fegte den Flur und trat demütig
zur Seite. „Der Herr Doktor ist schlimmer Laune,"
raunte er mit einem Anflug von Vertraulichkeit
dem jungen Manne zu. „Der alte Kummer war
wieder hier — die Frau will ihm sterben. Ganz
laut hat er hier im Flur gejammert. Er ist aber
hinausgeworfen worden."
„Seine Sache," sagte Wostermann kurz und trat
in Beckmoders Zimmer.
Das Wintersonnenlicht gab selbst diesem uner-
quicklichen Raume ein freundliches Aussehen. Über
den schweren, vierkantigen Schreibtisch mit seinem
vielfächerigen Aufsatz warf es eine Goldgarbe, darin
der zerarbeitete und tintenstarrende Lederbezug seine
Häßlichkeit zu verlieren schien.
„Guten Tag, Oheim!" sagte Wostermann, zu
ihm tretend.
Der Alte knurrte etwas, indem er das Buch,
darin er Zahlen von ungewöhnlicher Größe einge-
tragen hatte, mürrisch zuklappte und die Gänse-
feder auf die Tischplatte warf.
Wostermann erzählte Hergang und Verlauf des
Duells.
Beckmoder grunzte ein paarmal in sich hinein.
Unwirsch schloß er das Buch ins Schubfach und schob
den Schlüssel in die Tasche seiner dicken Flanellhose.
„Wem's Vergnügen macht, den Narren zu
spielen," brummte er vor sich hin, „dem soll man
Schellenkappe und Holzschwert nicht aus der Hand
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nehmen. Der Hase hat seine Sache von allen am
besten gemacht."
„Oheim —" Wostermann schluckte den Hohn mit
guter Haltung hinunter — „ich hatte die Absicht,
ein paar gutgemeinte Worte, einen wohlverständ-
lichen Gedanken, einen Wunsch meinerseits mit
Ihnen zu erörtern. Es würde mir lieb sein, wenn
Sie mir Ihre Aufmerksamkeit zuwenden wollten. Es
ist für einen Mann immerhin schwer, als Bittsteller
zu erscheinen, wenn auch in diesem Fall die nahe
Verwandtschaft Mißverständnisse ausschließen sollte."
Beckmoders Lippen zogen sich fest zusammen
wie die Schnur eines Geldbeutels. Er sagte nichts.
Wostermanns Natur war elastisch genug, gleich-
mütig fortfahren zu können: „Es war doch Ihre
Absicht, mich hier ansässig zu machen, sonst hätten
Sie mich in meiner Heimat lassen können, wo die
Aussichten für mein Fortkommen den hiesigen
mindestens gleichkamen. Ich habe mich Ihnen
bereitwillig und vertrauensvoll in die Hand gegeben.
Daß ich als Ihr Neffe einen schwereren Stand hier
haben würde als jeder andere, war Ihnen auch be-
wußt, und daß die Praxis, die Sie mir zuweisen, zu-
vörderst keine Grundlage für Unabhängigkeit und
Selbständigkeit geben kann, das wissen Sie ebenfalls."
Der Alte kniff jetzt auch noch die Augen zu-
sammen und gab seinem Gesicht einen gänzlich ver-
sagenden Ausdruck. Aber er erwiderte kein Wort.
Wostermann bezwang seine Ungeduld, zog einen
Stuhl herbei und setzte sich ihm gegenüber.
„Ich hoffe," sagte er, „Sie werden in mich die
Zuversicht setzen, daß ich Ihrem Wohlergehen das
höchst erreichbare Ziel gönne und wünsche, daß
ich es als eine mir zugefallene Aufgabe betrachte,
Ihren Lebensabend meinen Kräften gemäß zu
verschönern, wie es eben nur ein nächster Ver-
wandter zu tun imstande ist. Von diesem Standpunkt
aus, der zwischen uns eigentlich nicht erst qrörtert
zu werden brauchte, werden Sie meine Bitte ver-
stehen und, wie ich zuversichtlich hoffe, erfüllen."
Wenn das, was Beckmoder über die Lippen
glitt, ein Wort war, so klang es wie „Aha!"
„Ihre außergewöhnliche Tätigkeit, Oheim, hat
Sie zum wohlhabenden Mann gemacht —"
„Hast du schon in meinen Geldbeutel hinein-
gesehen?" warf der Alte kurz dazwischen.
„Es ist bekannt, Oheim, und Sie haben das
Recht, stolz darauf zu sein," sagte Wostermann be-
sänftigend. „Und darum richte ich an Sie die
Bitte, mir von Ihrem Vermögen schon zu Lebzeiten
einen Teil abzutreten, damit ich fähig bin, mir eine
Häuslichkeit zu gründen, die zugleich, wie ich nicht
erst zu versichern brauche, die Ihrige sein würde."
Der Totendoktor öffnete die zusammengekniffe-
nen Augen weit genug, um dem Sprecher einen
funkelnden Seitenblick zuzufenden. „Also berauben
willst du mich? Bei Lebzeiten schon ausplündern?"
Wostermanns Blut regte sich. „Fassen Sie
eine arglose Bitte doch nicht wie ein Verbrechen
auf!"
„Weiber! Weiber! Immer die Weiber!" rief
der Alte, seinem karierten Beinkleid einen Schlag
versetzend. „Wo eine Dummheit zutage kommt,
steckt ein Reifrock dahinter. Es kann keine Nichts-
nutzigkeit in der Welt geschehen, ohne daß eine Zopf-
trägerin —"
„Oheim," unterbrach ihn Wostermann mit flam-
mender Röte, „ich kann es eines Mannes nicht für
würdig halten, die Frau, die ihn geboren und erzogen
hat, in solcher Weise herabzusetzen — Aber," fuhr
er sich bezwingend fort, „das ist eine Abschweifung,
die uns vom Ziel entfernt. Wenn Sie die Erfahrung
für sich zu haben glauben, im Junggesellentum den
Hort der Behaglichkeit und Befriedigung zu finden,
so dürfen Sie diese Anschauung nicht verallgemeinern
und das natürliche Sehnen nach einem häuslichen
Herd mit dem Wort Dummheit belegen."
Beckmoder nickte wie eine Pagode, als ob in
seinem Genick ein Scharnier sich gelöst habe.
„Sehen Sie, lieber Oheim," half Wostermann
noch einmal überredend nach, „was in Ihrem Alter
nichtsbedeutend ist, das Unverheiratetsein, wird für
meine fünfundzwanzig Jahre verhängnisvoll. Die
Familienväter nehmen Anstoß daran, ja, es wird
in kleinen Städten für unschicklich gehalten, sich
einem unbeweibten Arzt in die Hände zu geben.
Schon von diesem Gesichtspunkt aus ist es dringend
geboten, daß Sie mir die Möglichkeit geben, eine
Frau heimzuführen, auch wenn sie kein Ver-
mögen hat."
Der Alte hielt mit Nicken inne. „Höre, Neffe,"
sagte er langsam und nachdrücklich, „deine Gesichts-
punkte und Standpunkte und sonstigen Punkte ver-
fangen bei mir nicht. Ich habe meiner Aufforde-
rung an dich nicht den Wunsch zugrunde gelegt,
ausgebeutelt oder mit Verpflichtungen bombardiert
zu werden. Ich habe dir Wohnung und Kost geboten
und den Abfall meiner Praxis. Frauenzimmer-