Overview
Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 50.1915

DOI Heft:
Heft 8
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.47351#0181
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
170 .. - —
sicherte ihm die ganze Hinterlassenschaft von Rechts
wegen und ausschließlich zu.
'Die Kabinettstür verschließend und in den Flnr
tretend, sah er Abel Wasmut, fahl wie ein Gespenst,
auf der Küchenschwelle hocken, mit hochgezogenen
Knien, den Kopf in die Hände gestützt und wie irre
vor sich hinstarrend.
„Dein letztes Brot ist dir hier gebacken," sagte
Wostermann, seinem Widerwillen harten Ausdruck
gebend. „Hinter dem Toten her gehst du aus dem
Hause. Du hast hier lange genug dein Wesen ge-
trieben."
Abel sagte nichts. Er preßte nur die Lippen zu-
sammen, daß nichts mehr als ein schmaler Streifen
davon zu sehen war, und gluckste wie ein gewürgtes
Huhn.
Dreizehntes Kapitel.
Die Nachricht vom jähen Ende des Totendoktors
lief wie Strohfeuer durchs Städtchen. Die ältesten
Leute erinnerten sich nicht, etwas so Interessantes
erlebt zu haben. Und plötzlich fehlte er als Persön-
lichkeit, wie es so geht im Wankelmut der Menge.
Viele betrauerten ihn, denen er geholfen, wogegen
die oft und schwer beleidigten Kollegen mit Be-
friedigung seinen Namen aus den Reihen der Leben-
den löschten.
Die allgemeine Ansicht, sonderlich nachdem sein
letztes Benehmen am Bett des Dukatenmännchens
bekannt geworden war, ging dahin, daß Beckmoder
schon längst an Gehirnerweichung gelitten habe und
nun einem von langer Hand vorbereiteten Gehirn-
schlag erlegen sei.
Wostermann, die notwendigen Vorbereitungen
und Anzeigen schnell erledigend, beeilte sich, im Hir-
singerschen Hause vorzusprechen.
Der Syndikus kam ihm kopfschüttelnd entgegen.
„Nicht einmal so lang wie die Nase ist, kann man vor-
aussehen, sonst hätte meine Forderung gestern unter-
bleiben können.",
Wostermann, im Bewußtsein, daß es ihm, nun-
mehr im Besitz der Erbschaft, vergönnt sei, sein ge-
liebtes Lorchen heimzuführen und sich auf Grund
der Hirsingerschen Forderung gekränkt zurückziehen
zu können, verneigte sich ernst. „Was geschehen ist,
ist geschehen. Ein schwerer Tag und eine schwere
Nacht liegen hinter mir."
„In der Tat, Sie sehen ganz grün aus," sagte der
Syndikus bedauernd. „Was die Beerdigung an-
belangt — Sie verstehen mich? Etwaige Verwandt-
schaft kann da noch nicht —"
„Ich begreife vollkommen," fiel Wostermann er-
regter ein, als fonst seine Gewohnheit war. „Es ist
mir klar, daß ich auf niemandes Mitgang zu rechnen
habe."
„Na, so schroff gerade nicht. Sie sind jetzt etwas
aufgeregt — ganz natürlich. Wenn Sie auch beide —
das ist ja nun vorbei — er war doch Ihr Verwandter
und in gewissem Sinne auch Ihr Wohltäter."
Wostermann verneigte sich wieder.
In diesem Augenblick ging die Tür auf, und
Lavinia erschien.
Beim Anblick des jungen Mannes trat sie an-
scheinend erschreckt zurück, faßte sich aber und schritt
auf Wostermann zu, ihm mit himmelwärts gerichte-
tem Blick die Hand reichend. „Es sollte so sein —"
Der Syndikus räusperte sich, als ob ein schwerer
Katarrh bei ihm im Anzuge sei.
„Das Menschenherz will Trost haben. Und es
findet ihn in der Anteilnahme seelenverwandter
Menschen."
So sanft, wie es gesäuselt war, so katarrhalisch
rebellierte der syndikale Kehlkopf von neuem da-
gegen.
„Ich danke Ihnen, Mamsell Hirsinger," sagte
Wostermann, die schlanken Finger mit Zurückhaltung
an feine Lippen führend. „Es ist eine erfreuliche
Sache, sich verstanden zu sehen. — Ich werde jetzt
dem Herrn Bürgermeister die Anzeige vom Ableben
meines Oheims offiziell überbringen. Diesen Gang
hierher bitte ich Privatim aufzufafsen."
„Ist schon geschehen, lieber Doktor. — Übrigens,
was wird denn aus dem armen Jungen, dem Was-
mut?"
„Den werfe ich hinaus," sagte Wostermann hart
und empfahl sich.
Je näher er dem Poghammerschen Hause kam,
desto schneller begann sein Herz zu schlagen. Er sah
Lorchens Kopf zwischen den Blumentöpfen am
Fenster, und eine lohende Freude, sie bald an sein
Herz drücken zu können, durchglühte seine Brust.
Die Bürgermeisterin, ihrem Regiment in der
Waschküche obliegend, allwo sie der verpönten Lauge
jeglichen Zugang absperrte und den Waschfrauen die
Nichtswürdigkeit geheimer Einschleppungen nach-
drucksam vor Augen stellte, überließ es Lorchen, sie
selbst und das noch im Toilettenwechsel begriffene
Oberhaupt anfänglich zu vertreten.

V35 Luch für- Me-
So kam es, daß Wostermann im Wohnzimmer
sich Lorchen allein gegenüber befand.
Sie stand, gehorsam der empfangenen Weisung,
wenn auch tiefst befangen, im Fensterlicht und rührte
nicht Hand noch Fuß, seinen freudigen Gruß zu er-
widern.
Er dachte an die Klatschbasereien, die wohl auch
zu ihrem Ohre gedrungen sein mochten, und fühlte
sich ob ihres Schweigens doppelt hingerissen.
So trat er hastig auf sie zu. „Lorchen, mein
liebes Lorchen, ein solches Glück war ich mir nicht
vermutend," sagte er mit einem Versuch, ihre Rechte
zu ergreifen, die in einer Seitenfalte ihres Rockes
allmählich Unterschlupf gefunden. „Der Todes-
fall —"
„Es tut mir leid," sagte sie so leise, daß er Mühe
hatte, die Worte aufzufangen. „Aber es ist Gottes
Wille —" '
„So nehme ich es auch," sagte er, ihr gesenktes
Antlitz mit seinen Blicken liebkosend. „Dem Men-
schen ist seine Stunde gesetzt. Aber, liebes Lorchen —
können Sie mich denn nicht einmal freundlich an-
sehen? — Dieser Tod löst eine Fessel —"
Sie dachte an die rote Primel und an das, was
Kathrine gesehen, was Appel und Kathrine sich er-
zählt und was schon ganz laut gemunkelt wurde.
Ihr scheuer Mädchentrotz bäumte sich auf.
„Ich möchte nicht," sagte sie, und dabei stieg's
ihr heiß in die Kehle, „daß Sie ,liebes Lorchen" sagen,
weil ich — weil mein Name Himberlich heißt."
Er sah sie betroffen an. Endlich wiederholte er
langsam und wie geistesabwesend: „Himberlich."
Ihre Verlegenheit, so groß sie war, ließ ihr doch
so viel Mut, daß sie sagte: „Leonore Himberlich."
Wostermann fuhr auf. „Ah so! Ganz recht!
Leonore Himberlich!" — Plötzlich faßte er sie fest
ins Auge. „Ich dachte, zwischen uns — so sicher habe
ich das geglaubt — da sollte doch wohl etwas — Oder
nicht? Lorchen, wie ich jetzt vor Ihnen stehe — Geben
Sie mir doch die Hand, und dann sagen Sie nur, was
ich — Lorchen, liebes Lorchen —"
Ihr flechtengekrönter Kopf hatte sich tief gesenkt,
als sie hastig sagte: „Ich habe nichts zu sagen, bloß
zu bitten, mich nicht mehr Lorchen zu nennen und
mich ruhig gehen zu lassen, nicht immer anzusprechen.
Es verdrießt mich — gar sehr!"
Es war die erste Lüge ihres Lebens, aber sie
glaubte, diese ihrem trauernden Herzen und be-
makelten Namen schuldig zu sein. Also lispelte sie
es mühsam heraus.
Er biß sich auf die Lippe. Wie ein Strahl kalten
Wassers fiel die Absage in sein erregtes Blut, daß
er zurücktrat und die ausgestreckte Hand sinken ließ.
„So, so! Ei, freilich! Bitte um Entschuldigung,
Mamsell Himberlich, lästig gefallen zu sein. Wenn
ich es früher gewußt hätte —" Er lachte auf. „Ich
meine, wenn Mamsell Himberlich mir eher ihren
Verdruß gezeigt hätte. Gar so anmaßend bin ich
nicht, wie es Mamsell Himberlich anzunehmen be-
liebt. Sie wird nicht mehr über mich zu klagen haben
— ganz im Gegenteil."
In Lorchens erstickendes Herzklopfen tönte Frau
Jettes machthaberischer Schritt.
Wostermann wandte sich mit mühsam unter-
drücktem Groll der Eintretenden zu, die neben Ge-
messenheit und Würde in ihrem grünen Gingham-
kleide einen nicht unerheblichen Prozentsatz Seifen-
geruch mit ins Zimmer brachte.
„Wir wußten es schon durch Appel," sagte die
Bürgermeisterin, gnädig ans einen Stuhl deutend.
„Nehmen Sie Platz! — Lorchen, sieh nach den
Frauen."
Da ward der Platz am Fenster leer.
„Sagen Sie," — Frau Poghammer rückte sich
auf dem Sofa zurecht, um interessante Einzelheiten
zu erfahren — „wie kam denn das nur so plötzlich?
Abel Wasmut hat doch noch gestern nachmittag beim
Metzger Schmorfleisch zu heute geholt, da muß doch
die Sache noch im Gange gewesen sein. Und er hat
auch noch ein ganzes Brot gekauft."
„Darüber kann ich keine Auskunft geben," sagte
Wostermann, unruhig und erregt in jeder Faser.
„Er ist heute morgen tot gefunden worden. Ein-
geschlafen und nicht wieder erwacht. Ich bin selbst
erschüttert."
Die Bürgermeisterin neigte einverstanden ihre
lila Haube. „Das gehört sich so. Was wird denn
nun aus dem grünen Hause?"
Diese Frage fing das eintretende Oberhaupt auf.
„Sehr freundlich, sich persönlich zu bemühen." Er
reichte Wostermann die hagere Rechte. „Sie sind
der Erbe?"
„Am Abend vor seinem Tode hat mich mein
Oheim schriftlich zum Universalerben eingesetzt."
„Gerade vor seinem Tode?" fragte Frau Jette
höchst interessiert. „Das ist ja sehr wunderbar! Wie
kam denn das? Hatte er etwa eine Ahnung? Etwas
Unheimliches war ja immer an ihm und um ihn."

—-— Ml 8
Wostermann zuckte die Achseln. Alle diese
Einzelheiten wirkten unangenehm auf ihn ein. Dazu
brannte jetzt der Hautriß auf seiner verletzten Hand.
„Ich kann nichts weiter sagen, als daß er tot im Bett
gefunden wurde, und daß nach meinem Dafürhalten
der Tod durch Schlagfluß in der zweiten Morgen-
stunde eingetreten sein muß."
„Sie haben da eine tüchtige Schramme," sagte
der Bürgermeister bedauernd.
„Als ich genötigt war, das Fenster des Kabinetts
einzuschlagen, fiel ein Stück Glasscherbe mir auf den
Handrücken. Es ist weiter nichts als eine Haut-
wunde."
„Wie war denn," fragte Frau Jette höchst ge-
spannt, „Ihr letztes Beisammensein? Ich erinnere
mich da an verschiedene Fälle in unserer Familie
du auch, Poghammer, jawohl, du erinnerst dich
auch! Mein Vater sagte zweimal gute Nacht, sonst
immer nur einmal. Und meine Großmutter sagte:
,Legt mir keine neuen Maschen auf, der Strumpf ist
fertig." — Was sagte Ihr Oheim zuletzt?"
„Es herrschte zwischen uns leider keine Harmonie,"
sagte Wostermann kurz und erhob sich. Es war ihm
über alle Maßenzuwider, so ausgefragtzu werdenüber
Dinge, die wahrlich nichts Erfreuliches in sich trugen.
„Und doch das Schriftliche?" fragte Frau Jette
kopfschüttelnd. „Sehr kurios! — Meinst du nicht
auch, Poghammec?"
„Beckmoder war immer ein Sonderling," sagte
der Bürgermeister mit einem Anslug von Selb-
ständigkeit. „Mich wundert seit langem nichts mehr
von ihm."
Der grüne Ginghamrock erhob sich. „Ich würde
an Ihrer Stelle mit Abel Wasmut, dem treuen
Diener, weiterwirtschaften. Er ist unser bester
Armenhauszögling gewesen und ein geschickter, an-
stelliger Mensch. Es würde empfehlenswert sein,
ihm seine Anhänglichkeit an die Person Ihres Oheims
zu lohnen. Wir alle wissen — du auch, Poghammer,
hast davon gehört und gesprochen —, daß er Beck-
moder verehrt und geliebt hat und sich darüber kränkte,
bei Ihnen kein Wohlwollen zu finden."
Wostermann, jeder Bevormundung aufs äußerste
abgeneigt, sagte ohne Zögern: „Je eher ich diesen
Burschen aus dem Hause entfernt sehe, desto lieber
wird's mir sein. Ich wüßte kaum jemand zu nennen,
der mir so zuwider wäre wie dieser Schleicher."
Die Bürgermeisterin, gewöhnt, ihre Mahnungen
mit Ergebenheit hingenommen zu sehen, setzte ihre
strengste Miene auf. „Dann haben Sie unser aller
Mißfallen gegen sich."
„Na, schließlich — wie Sie meinen," sagte Pog-
hammer vorsichtig vermittelnd. „Das ist ja Gefühls-
sache, obwohl — Wünsche guten Tag!"
„Poghammer," sagte Fran Jette, als die Flur-
tür zuklappte, „wenn in diesem Wostermann mehr
Herz steckt als in einer Schotenhülse, und wenn er
nicht noch habgieriger ist als Bäckermeister Nudels
alter Stehlrabe, lasse ich mir gleich ein Ohr ab-
schneiden. — Lorchen!"
Lorchen, wie verzaubert durch die große Lüge
ihrer zitternden Lippen, schlich scheu ins Zimmer.
„Lorchen," sagte Frau Jette noch in Hellem
Ärger, „stehe nicht da und träume! Appel hat heute
keine Zeit, die Brühsuppe ins Armenhaus zu bringen
und das Hackfleisch für den Kranken. Pack's zu-
sammen und trag's hinaus."-
Der Vorfrühling war mit seinem bißchen Sonnen-
schein schon zu Ende, als Lorchen mit dem Henkel-
korbe die Kastanienallee hinaufschritt. Die Luft war
still und regenschwer und von jenem Lenzeshauch
erfüllt, der weither aus duftigen Landen heran-
zuschweben scheint.
Gegen die Schwere ihres Herzens war die Last
am Arm verschwindend leicht. Aber Lorchen be-
reute nichts. Beschmeichelt zu werden, weil sie blot!
Lorchen Himberlich war, während eine andere ihm
lieb und teuer war, beschämte sie nur, aber erfreute
sie nicht. Sie ließ also ihren Tränen freien Lauf,
während sie den schweren Korb vorwärts schleppte.
Frau Stippke nahm die Liebesgaben dankend in
Empfang und verschwand damit in der Küche, um
die Suppe zu verteilen und das Fleisch aufzuwärmen.
Dabei verschwand die Hälfte der kräftigen Brühe für
Herrn Stippkes Gebrauch, und der singende Wasser-
kessel füllte die entstandene Leere aus. Bon dein
Hackfleisch aber führte sie erst ein erkleckliches Kost-
häppchen sich selbst zu Gemüte, bevor sie mit dem
Geschirr wieder zum Vorschein kam.
„Gottes Segen über die Frau Bürgermeisterin!
sagte sie, Lorchen nach der Krankenstube voran-
schreitend. „Erschrecke Sie nur nicht, Mamsell
Himberlich, wenn Sie sieht, wer dies herrliche Essen
kriegt. Mehr als ein Knochengerüst ist der Mensa)
nicht."
„Appel sagt, daß er sehr elend aussehe."
„Wie 'ne Talgkerze bei Tage. Und wenn er erst
das Seufzen kriegt —"
 
Annotationen