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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 50.1915

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Heft 10
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214 — —- v35 Luch für Mle

l^est l0

Jahr gesessen, von Pulvermacher mit Vergißmein-
nichtblüten sanft bestreut, während Moselbach ihr
Ringelblumenkränze flechten half und Pieper, zu
ihren Füßen liegend, anf einer aus Weidenrinde
gefertigten Flöte Schalmeientöne sanft erklingen ließ.
„Es ist heute nicht eine Spur von Poesie im
Walde," sagte sie, ein Maiglöckchen achtlos zertretend.
„Man könnte meinen, er wäre ausgewechselt."
„Er kann nur auslösen, was wir ihm entgegen-
tragen," warf er ein. „So ist es mit allem, was uns
erhebt und bewegt."
Sie war so daran gewöhnt, als Autorität zu
gelten, daß ihr dieser Einwurf höchlich mißfiel. „Man
kann es dir in deinem Berufe nicht verargen, daß dir
die Seele der Seele, die ahnungsreiche Empfindung,
unbekannt ist," sagte sie mit einiger Schärfe. — „Ich
möchte nur den "Strohhut abnehmen."
Dabei zog sic die Hand aus seinen: Arm — zur
Strafe.
Er litt es, ohne cs sonderlich zu bemerke». Er
mußte daran denken, daß morgen um diese Zeit sich
Lorchen zum schweren Gange rüstete. „Besser ist
es, genau zu wissen, Ivas inan fühlt und warum."
„Wie Alltagsmenschen —"
„Die wir sein sollen und müssen, wenn anders
wir nicht rauh mit der Wirklichkeit zusammenstoßen
wollen," unterbrach er sie ernst. „Wir wollen uns
aber doch nicht den schönen Tag verderben mit Wort-
geplänkel. — Oder möchtest du?" fügte er scherzend
hinzu.
„Ich möchte gar nichts," sagte die Hochgefeierte
sehr unharmonisch inmitten so viel duftiger Waldes-
schöne.
Ein Helles Lachen von allen Seiten schnitt ihn:
die Antwort ab. Man spielte ;etzt „Begegnen". Auf
allen Wegen kamen sie Arm in Arn: einhergeschritten,
die sich gefunden, Moselbach mit der Anwaltstochter,
Pieper mit Frau Krokers Schwester, der Provisor
mit der Rendantenenkelin zur Seite.
Mit Halli und Hallo zogen sie an dem Paare vor-
über.
Lavinias Wangen röteten sich. In: vorigen
Jahre hatte man um die Ehre ihrer Begleitung das
Los gezogen.
„Kehren wir um!" sagte sie hastig.
„Wenn ich dich und deine poetische Veranlagung
nur verstände! Nun, wir sind allein. Die Blüten
deines Herzens, wie du sagtest, sind in dir durch mich
erschlossen: der stille Wald ist über uns. Wir haben
keine andere Sorge, als uns glücklich zu machen und
die Weihe des Frühlings um uns zu genießen, ich
wollte —"
„Ich glaube dir gern, daß du mich nicht verstehst,"
sagte sie, ihre Lockenkämmchen befühlend. „Es hat
sich manch anderer schon darum Mühe gegeben."
„Marionetten!" fiel er mit Nachdruck ein. „Tu
aber wolltest einen Mann haben. Du hast ihn."
Frau Krokers Schwester, die kleine, runde Land-
pomeranze, flog den Weg herauf, im „Greifenspiel"
und hinterdrein mit fliegenden Rockschößen Herr
Pieper.
„Aus dem Wege! Aus dem Wege!" riefen sie
laut.
Lavinias Wimpern zuckten. — Sie und aus den:
Wege gehen!
Die Arme weit ausgestreckt nach seiner flüchtigen
Dame stürmte jetzt auch Moselbach daher. Er fing
sie mit Hellem Gelächter. Sie tanzte förmlich in seine
Arme hinein. Der Ausgelassenste aber war der zu-
künftige Apotheker. Er kam gesprungen wie ein
Grashüpfer, daß ihm die langen Haare um die Ohren
sausten.
Und sie, die Allbegehrte, die Hochgefeierte, war
abgetan! Im Schmerz um sie schmolz keiner dahin!
„Ich wollte, dieses dumme Fest wäre zu Ende,"
brachte sie mühsam hervor. —
Im alten Damenwinkel löste der süße Wein Mit-
teilungsbedürfnisse aus. Tie Rendantin und die
Kreisphysikussin, geschworene Klatschschwestern, saßen
beieinander und stippten Kuchen ein.
„Die Hirsinger kann mir leid tun," sagte die Physi-
kussin knitterig lächelnd. „So 'nen Schwiegersohn.
Sie ist eben das reine Schaf. Wenn's meine Tochter
gewesen wäre! Übrigens die Plätzchen hätten mehr
Vanille haben müssen. — Die gute Sommerlich
trägt ihre Hakennase immer sehr hoch, aber was sic
bückt, ist immer klintschig."
„Hören Sic," brummelte die Vertaubte sich um-
sehend, „wir sind doch allein?"
„Wissen Sie etwas?"
„Etwas?! Oh!"
Die Phhsikussin trank ihr Glas nut einem Schluck
aus. „Warten Sie! Ich rücke näher heran!"
Und zwar rückte sie so heran, daß sie ihrer Ver-
trauten fast auf der Hüfte saß. „Nun?"
Die Rendantin sah sie herzlich an. „Bloß unter
uns, Liebste! Ganz unter uns! Dabei bleibt es."
„Rendantchen! Sie kennen mich doch!" sagte

die Hageweit voll brennender Neugier, aber unver-
mögend, ihr Ohr noch näher heranzubringen, ohne
der anderen auf den Schoß zu steigen. „Jst's was
Schlimmes?"
Die Rendantin schlug die Hände zusammen und
blickte gen Himmel, soweit es das Laubdach ge-
stattete.
„Um alles in der Welt!" flüsterte die Phhsikussin
fast vergehend. „Hat Hirsinger etwa seine Frau —?"
Sie machte eine unzweideutige Hiebbewegung.
„Nicht? Was denn?"
„Meine Waschfrau —"
„Die Waschfrau — oh !" wisperte Frau Hageweit,
diese Persönlichkeit als Neuigkeitsfundgrube gleich
hoch in Ehren haltend wie ihre Nachbarin.
„Man munkelt —"
Die Phhsikussin riß die Augen weit aus. „Beste,
was munkelt man? Von Wostermann etwa?"
Die Rendantin nickte dreimal. „Es soll — aber
Hageweitchen, unter uns! — es soll mit dem alten
Beckmoder nicht richtig gewesen sein."
„Nicht richtig? Ist er verrückt gewesen? Oder
gar nicht tot?" raunte die Phhsikussin, vor Staunen
fast in die Höhe springend.
„Mehr als tot, Einzige! Bloß nicht mit rechten
Dingen. Er starb ja so plötzlich! Wissen Sie nicht?
Schlaganfall kann jeder sagen. Beckmoder, das
dürre Gerippe, hatte keine Unze Blut iu sich. Wer
hat ihn denn als Leiche gesehen? Der Bader knapp.
Nur die Baderin und Tischler Tuckmann. Ter hat
drauf geschworen —"
Die Phhsikussin war so erregt, daß sie im Gesicht
ganz fleckig wurde. „Geschworen? Rendantchen!
Um alles! Was weiß Tuckmann?"
„Sie wissen doch — die Kassette !"
„Ist sie da? Hat er sie?"
„Engelchen," flüsterte die Rendantin mitleidig
lächelnd, „das bringt man doch nicht gleich ans Tages-
licht, nachdem — hm — hm!"
„Gerechter! — Das gönne ich den Hirsingers!"
„Da schiebt man's denn dem armen Abel Was-
mut in die Schuhe und macht den Leuten Hokuspokus
vor mit dem verschwundenen Geldsack!"
„Wenn dieser Abel doch sprechen wollte!" rief
die Phhsikussin voll überströmender Sehnsucht. „Ach,
Sie wissen noch mehr, Rendantchen! Sie treue
Seele! Wir kennen uns ja!"
„Eines Nachts hat Abel den Wostermann vor
Beckmoders Schlafstube getroffen, wie er durch ein
Loch im Fenstervorhang — das Fenster wollte er
natürlich eindrücken!"
„Eine Gewissensfrage noch," drängte es sich der
Erregten vom Herzen. „Halten Sie's für ganz un-
möglich, daß Hirsinger — unteren Siegel, Beste! —
etwas davon wissen sollte?"
„Ein Schlauberger war er immer und hat's dick
hinter den Ohren. — Aber, Beste, die Tische werden
gedeckt. Ich muß nach meinem Schweinsbraten
sehen!" —
Es war so lind, so junglaubdustig unter den
Buchen. Noch sangen die Vögel in den Zweigen,
dieweil in: Westen das schönste Abendrot bis zu:::
Zenit aufstieg, die langen Tafeln mit seinem Zauber-
licht bekleidend. In Massen lagen frischgepflückte
wilde Maiglöckchen auf ihnen verstreut, und Kränze
und Sträuße zierten die gesamte Jugend.
Indes die Gabe eines jeden von: Richterkollegiun:
der Damen bedachtsam geprüft und kritisiert ward,
saß Wostermann mit leeren Augen und leerem Herzen
neben seiner Braut. Sie ward ihn: allmählich unver-
ständlich in ihrer Liebe zu ihm, die er notwendig
einem tiefen Bedürfnis nach seinen: Besitz ent-
sprungen wähnen mußte, nicht einer bloßen Laune.
„Sage mir eines," bat er, da sie stumm und starr
neben ihm saß, die meerfarbenen Augen ins Wolken-
rot gerichtet, „weshalb du heute nicht froh sein
kannst?"
„Ich werde froh sein, wenn ich diesen: törichten
Gelärm den Rücken gewandt habe, um mich in der
Einsamkeit, der Freundin meines Lebens, wiedcr-
zu find en."
„Die da lärmen," sagte er nicht ohne Ironie,
„sind die Marionetten, von denen ich vorhin
sprach."
In der Tat, trotz seines verbundenen Armes be-
harrte Moselbach, der Elegant, unter allgenreinem
Jubel dabei, seiner Nachbarin einen Strauß wilder
Veilchen ins Gürtelband zu schieben, und Fritz
Pieper machte einen schwärmerischen Versuch, sich
in den Augen seiner Dame zu bespiegeln.
Beim Rundtanz im Freien, wozu Laterneu zwi-
schen den Bäumen farbig dämmerndes Licht ver-
breiteten, wollte Wostermann Lavinia zum Reigen
führen. Aber plötzlich schoß ihn: der Gedanke an
Lorchen durch den Kopf, an ihre Einsamkeit und
Herzenstrauer — da uuterließ er's.
„Ich finde," sagte Frau Poghammer zur Syndi-
kussin, „daß Lavinia sich als Braut bewundernswert

zurückhält. Es ist eine Würde in ihr, eine Hoheit,
die eines anderen Bräutigams würdig wäre!"
Frau Suse seufzte. „Wenn Kathrine bloß nicht
immer so schlimme Träume hätte! Lebrecht darf
man gar nichts davon sagen. Der fährt immer da-
zwischen wie eine Kanone. Seit wir die große Halb-
jahrswüsche hatten und die Waschfrau da war, ist ein
ewiges Geflüster unter den Leuten. Ich habe gestern
hinter der Türe gehorcht. Sie sagten irgend etwas
von Beckmoder. Frage doch bei der Appel unter der
Hand mal an."
„Eßt aus, was ihr euch nut dieser Verwandtschaft
eingerührt habt," erklärte Frau Jette mit majestäti-
scher Handbewegung. „Ich mische mich in nichts." 7"
Nun goß der Blond sein weißes Licht über die
säuselnden Wipfel, das Gespinst über den Wiesen
verdichtete sich zu schleichenden Nebeln. Da rasselten
zu Wostermanus Befriedigung endlich die Leiter-
wagen vor das Försterhaus.
Singend und schwatzend fuhr die Gesellschaft
durch die Nacht dahin bis ans Tor. Von da ab schwei-
gend.
Kein braver Bürger durfte im Schlafe gestört
werden.
Neunzehntes Xspitel.^^..
Das Totenglöckchen läutete wieder — nach
Tischler Tuckmanns Meinung, als ob eine Katze an
den Klöppel gebunden sei. Bisweilen schien ihm
der Atem ganz auszugehen, wenn Küster Fiebet
seinen Hals zu weit nach dem Schallloch hinüberbog
und darob vergaß, den Strick zu ziehen.
Denn draußen rannte sich die Straßenjugend
die Pantoffel von den Füßen, und die Hökerinnen
auf dem Markt ließen ihre Körbe schimpflos uM-
stoßen, weil Konrad Himberlichs Begrübniszug tn
höchstgespannter Erwartung stand.
Und da kam er langsam daher durch die junggrst-
nende Allee — ein trauriger, trauriger Zug. Kein
Armensarg, aber auch nicht vielbesser, nur wenige Blu-
men und ein Wiesenblumenkranz, von Lorchens Hand
gewunden, darauf genagelt. Und hinter dem Sarge
Lorchen an des Pfarrers Hand, der unentgeltlich über
den reuigen Sünder den Segen gesprochen und jetzt
der schuldlosen Tochter das Geleit zum Friedhof gab-
Sie trug das Haupt unbedeckt, so daß das TiadeM
ihrer Flechten sich sonnigblond um ihre Stirn legte-
Die immer überfließenden Augen hielt sie zu Boden
gesenkt, so von aller Neugier nichts gewahrend. Und
doch gab's eine frohe Stelle in ihrem Herzen: e^>
war ein ehrliches Begräbnis.
Und weil's das war, kam auch Herr Stippn
seiner Armenhansschar vorangeschritten, die, huM
pelnd und schleichend, sich die Abwechslung zwischen
Armenhaus und Kirchhof nicht entgehen lassen
wollte. Was kümmerte sie Lorchens Schmerz!
Am Eingang in die Mühlenstraße, wo er zu tun
gehabt, begegnete Wostermann den: Zuge, Gr
wollte nicht Hinsehen, wollte mit Gewalt sich Lös-
chens Anblick entziehen, damit der seine sic nickst
wieder „gar arg verdrieße", doch wie gebannt ver-
blieb er auf der Stelle, wo er stand, und starrte zu
ihr hin, die ahnungslos vorüberschritt.
Da war's ihm, als ob ein Raunen, ein Gewisper
und Geflüster in der Runde um ihn sich hörbar maaste-
Noch deutlicher stäche» harte Blicke auf ihn ein. Del
Tischler liiftete kaum die Kappe, und endlich schief'
ein alter Trunkenbold von Besenbinder ihm um
dem Stocke drohen zu wollen.
Es wurmte ihn, daß er dem unverständlichen Ge-
baren Beachtung schenkte. Verdrießlich ging er davon-
Am Goldenen Stern sah er die Herren Pieper,
Moselbach und Pulvermacher sich vergnügt die Hände-
schütteln. So eifrig waren sie mit sich beschäftig'-
und sahen so beharrlich an ihm vorbei, daß ihm der
Zorn in die Glieder fnhr. ,
Er trat mit harschen Schritten neben sie „3"!
möchte wissen, meine Herren, ob Ihr Sehvermögen
in letzter Zeit gelitten hat? Ich weiß ein Mittel, e»
zu verbessern — mit oder ohne Hasensprung."
Sprach's und ließ sie mit verblüfften MierstU
stehen. In seiner Erregung stieß er mit dem Kre:-
physikus, der aus dem nächsten Hause trat, beinahe
zusammen. . .
Dem war noch in der Nachtmütze von seiner
Gattin, die das gelobte Schweigen getreulich brach,
der Kopf zum Schwirren gebracht worden. Der
Vorwurf, des Totendoktors Leiche nicht zwangst,
weise untersucht zu haben, löste in Frau Hagcwe'
den Wunsch ans nach Abel Wasmuts gewaltsamer
Zungenlösung.
Das alles rumorte den: Physikus noch unter oc:
Schädeldecke, als er des schlimmen Verhältnisse^
zwischen Oheim und Neffen gedachte, das längst
Allgemeingesprüch geworden war. Und diesen: Ge-
danken verdankte es Wostermann, daß der Krest^
physikus mit so viel Kürze den Hut lüstete, daß e"
Spatz nicht Zeit gehabt hätte, hinauszuschlüpseru
 
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