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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 50.1915

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Heft 19
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412 v38 Luch Llle

Heft 19

Der freibeuter.
I^omgn von Nl-tur Winckler-Innnenderg.
lrorllelmng.) — iNachdruckorrdotrn.)
lle guten Geister! Dem Amtsrat sträubten
sich die Haarreste seines Schädels. Drau-
ßen, hinter den Glasfenstern, stieg ein
schlanker, großer, blonder Mann mit weiß-
! lichhellem, starkem Schnurrbarte die Stein-
stufen empor.
„Da ist der erste, Herr Leutnant v. Studden-
dorf!" sagte der Geschäftsführer.
Emmerich saß da wie versteinert. Endlich, eben
drehte sich die Glastür in ihren Angeln, schrie er
auf: „Kreuzbube — Kukigrand, Studdendorf! Da
soll mir einer 'nen Storch braten!"
Der Ankömmling hatte es gehört, auch seine
Augen, wasserblaue, fröhliche Augen, wurden groß.
Er musterte den Rufer, und jetzt ging ein leuchtendes
Lachen über das breite, sommersprossige Gesicht.
„Nanu! Das wäre, das ist ja —"
Der Amtsrat war mit einer Elastizität auf-
gesprungen, die ihm niemand und er sich selbst nicht
mehr zugetraut hatte. „Na freilich, das ist Ihr
Alter, Ihr Quälgeist, der Sie immer zu früh aus
den Federn jagte, der Hägershofer, jetzt Amtsrat
Emmerich!"
Sie hatten sich bei den Händen.
„Diese Überraschung!" stammelte Studdendorf.
„Diese freudige Überraschung! Acht Jahre ist's
her — was, Herr Emmerich!"
„Nu fehlt bloß noch der Rodewald."
Der Leutnant nickte. „Beten wir mal ganz
energisch. Vielleicht kriegt er ein paar Stunden
Urlaub da oben."
Der Geschäftsführer holte ein zweites Glas, und
dann saßen sich die beiden alten Bekannten gegen-
über und spannen munter das Garn alter lieber
Lebenserinnerungen.
Mitten darin fragte Studdendorf nach der
reizenden jungen Frau Gemahlin und dem braun-
lockigen kleinen Bürschchen Arnulf. Er empfing
Bescheid und bat, der verehrten Dame noch heute
die Hand küssen zu dürfen. Im Ostseehotel bei der
Mittagsmahlzeit.
Der Amtsrat aber kehrte aus der Vergangen-
heit in die Gegenwart zurück, indem er sagte: „Daß
ich die Heuernte verbummle, ist ja erklärlich, liebster
Studdendorf, mir gehört sie nicht mehr. Aber wie
steht es denn nun mit Ihnen?"
Der Befragte nahm einen Schluck. „Auch aus,
verehrter Amtsrat, habe die ganze Landwirtschaft
an den Nagel gehängt. Vorläufig wenigstens.
Konnte Klusow gut los werden, sehr gut sogar,
ein Jagdphantast verliebte sich in meinen Wild-
bestand und zahlte, ohne zu handeln. Dann starb
Onkel Leberecht — Sie wissen ja, er kränkelte da-
mals schon —"
„Weiß," lächelte Emmerich. „Sie nahmen ja
schon immer Urlaub für sein Begräbnis."
„Na also. Da hatte ich genug, diente mein Jahr
ab, wurde Reserveoffizier, und seit einem Jahr sehe
ich mir die Welt an! Die gnädige Frau hat mir
eine unbändige Lust dazu in die Seele gepflanzt,
bin ja immer mit ihr gereist auf der Landkarte —
wissen Sie nicht?"
„Weiß, weiß! Haben ihr sehr gefehlt nachher.
Und jetzt — die Reise ist doch wohl zugleich ein
bißchen Brautschau unter den Töchtern der Länder?
Oder schon verankert? Die Goldfinger rechts und
links sind noch ganz kettenfrei! Oder in der Westen-
tasche?"
Studdendorf protestierte. „Beileibe nicht! Noch
ganz frei und denke es auch noch eine ganze Weile
zu bleiben. Es geht auch so und wirklich famos.
Die Welt ist so schön, und es lebt sich so nett in ihr,
wenn man Kleingeld hat."
In diesem Augenblick stiegen zwei Herren die
Steintreppe herauf. Studdendorf saß mit dem
Rücken nach der Tür und war in seine Erzählung
vertieft. Der Amtsrat sah, wie die Neuangekom-
menen interessiert nach dem Sprecher schauten und
dann an dem Skattisch in der Ecke Platz nahmen.
Er legte die Hand auf des Leutnants Arm.
„Ihre Zeit, die Sie mir zu widmen die Güte hatten,
ist leider um, lieber Studdendorf. Ihre Skatrundc
wartet, und ich darf Sie nicht eigensüchtig in An-
spruch nehmen."
Studdendorf blickte ihn erstaunt an. „Sie
wissen —?"
„Ja, ich weiß."
„Sie hatten mich deshalb hier erwartet?"
„O nein — keine Ahnung, daß Sie kämen.
Aber daß dort ein Skat etabliert wäre, hat mir
der Geschäftsführer erzählt, und als Sie kamen,
gesagt, daß Sie der erste der Runde seien."


„Ach so! Und nun? Nun wollen Sic mich
dorthin abschieben?"
„Abschieben? Wahrhaftig nein! Am liebsten
ginge ich nut. Es ist verteufelt langweilig hier —"
„So kommen Sie mit! Ein vierter Mann ist
stets willkommen, und es sind ein paar liebe, ge-
mütliche Leute: ein Rentier aus Stettin und der
andere aus Breslau, Druckereibesitzer glaub' ich, ge-
bildeter Plauderer, wird Ihnen gefallen."
„Und ich?"
„Na, die Frage! — Ach so! die verehrte gnädige
Fran Gemahlin wartet?"
„Die wartet nicht, lieber Studdendorf. Ich habe
Urlaub. Wollte mir die Strandpromenade ansehen,
vielleicht baden, habe ich ihr gesagt. Aber bei vier-
zehn Grad — brrrr! Das ist lebensgefährlich!
Unter zwanzig beehre ich die Ostsee nicht. Meine
liebe Frau vergeht in wonnigen Betrachtungen
dieses kühlen Wassers von ihrem Strandkorbe aus.
Also, wenn Sie meinen —"
„Ob ich meine! Kommen Sie! Dann holen
wir die gnädige Frau zum Essen ab."
„Guter Gedanke!"
Sie tranken aus und siedelten in die Skattisch-
ecke über. Man fand sich prächtig zusammen, und
zwei Stunden lang regierten die Wenzel.
Sehr aufgekratzt wandelte gegen ein Uhr der
Amtsrat die Strandpromenade entlang nach links,
in der Richtung nach Ahlbeck. Zwei Flaschen Wein
am Vormittag hatte er seit langer Zeit nicht mehr
getrunken. In der Kreisstadt, wenn er am Donners-
tag zum Wochenmnrkt erschienen war — sonst nur
abends.
Er hatte seinen linken Arm in den rechten seines
wiedergefundenen jungen Freundes gehakt und
stieg sehr siegessicher auf dem schmalen Laufbrett
daher, das rechts abwärts ans Seeufer führte.
Noch ein Stück durch hen tiefen, weichen Sand, und
dann rief er, auf eine Strandkorbrückwand deutend:
„Da sind wir. Meine Teure führt hier die Nummer
vierhunderteinundsiebzig." Er klopfte mit der
silbernen Krücke seines Stockes an das Korbgeflecht,
links um die Ecke bog sich ein schöner Frauenkopf,
und eine muntere Stimme rief: „Männe, herein!"
Studdendorf war im Sandwaten einen Schritt
zurückgeblieben, jetzt stand er, den Panamahut in
der Hand, abwartend, bis auch er erkannt werden
würde. „Noch immer eine Musterehe!" dachte er
bei sich selbst, als er die vergnügliche Begrüßung
mit ansah.
„Kommst du nicht über die Schwelle des Wig-
wams dem Häuptling entgegen?" fragte Emmerich.
„Nee, Häuptling, bin in zwei Tücher eingewickelt,
denn die Luft weht von der See und ist nordwinds-
mäßig kühl."
„Wenn nun aber noch ein Gast vor dem Zelte
steht, Tinchen — oder vielmehr hinter dem
Zelte?"
„Dann hat sich dieser Gast an den Eingang zu
bemühen!" rief Studdendorf dazwischen. „Ich eile
schon pflichtmäßig!" Mühselig stapfte er durch den
pulvertrockenen Sand, und nun wurde es an der
Strandkorbfront lebendig.
Klementine schälte sich aus ihren Tüchern und
starrte freudig überrascht den Leutnant an, der
seinerseits sich in Verbeugungen überstürzte, bis sich
ihm eine kleine, weiße Hand entgegenstreckte. Es
war, als ob er erst Halt bekommen habe, da er end-
lich die Hand erhaschen und respektvoll an die Lippen
führen konnte.
Dann lachten sie sich an wie ein paar Kinder.
„Mein Gott, der Fritz Triddelfitz!" jauchzte
Klementine.
„Zu Diensten — in Lebensgröße!"
Er hatte auf Hägershof von ihr diesen Spitz-
namen bekommen, erstens, weil er das Doppel-D
mit Reuters prächtigem Gesellen gemein hatte, und
zweitens, weil er manchmal auch ein „infamigter
Windhund" war.
Jetzt war Klementine feuerrot geworden. „Oje!
So darf ich aber nun nicht mehr sagen! Verzeihung,
Herr v. Studdendorf —"
„Leutnant — bitte, Leutnant, Tinchen! Du
hagelst immer tiefer in die Tinte —"
Der Amtsrat sagte es, der, auf den silbernen
Hundekopf seines Stockes gestützt, in tiefem Sande
stand und sich von der Wüstenstrapaze verpustete.
Klementine faßte sich schnell. „Also: Herzlich
willkommen, Herr Leutnant, ich freue mich sehr,
Sie wiederzusehen!"
Der Angesprochene begann aufs neue zu dienern.
„Gnädige Fran, das vorhin war viel schöner, viel
wärmer. Ich war oft so glücklich als Fritz Triddelfitz
auf Hägershof!"
Sie lächelte schalkhaft. „Schön, schön! Aber
vorbei ist eben vorbei. So vieles im Leben, das
man halten möchte, geht unwiederbringlich vorbei!
— Also hier treffen wir uns! Wie herrlich! Sic

werden viel zu erzählen haben, nud nur alle finden
Anschluß aneinander!"
Sie war aus den: Strandkvrbe herausgekonunen
und betrachtete sich ihren Exeleven mit mütterlichem
„Bin ich sehr verändert?" fragte Studdendorf.
„Im Gesicht gar nicht, wenn man sich den langen .
Schnurrbart wegdenkt, die große Sommersprosse
auf der Nase ist auch noch da —"
„Extra für 'n Steckbrief von: Himmel verliehen.
„Aber sonst: acht Jahre machen eben aus dem
Jüngling einen Mann. Gewachsen sind Sie auch
noch."
„Zu Befehl, ja —"
„Kinder," mischte sich der Amtsrat ein, „es Pt
ein Uhr durch!"
Studdendorf fuhr eifrig fort: „Dafür, gnädige
Frau, haben Ihnen die acht Jahre gar nichts an-
gehabt — auf mein Wort, gar nichts. Genau so
sahen Sie ans und sahen Sic mich an, wenn wir
zusammen reisten. Sogar am Nordpol waren wir
einmal miteinander und lebten von der Bären-
jagd —"
„Das wissen Sie noch?"
„Werde ich nie vergessen. Wissen Sie, gnädige
Frau, was mein Geographielehrer auf dem Gym-
nasium gesündigt hat, haben Sie an mir gutge-
macht. Gott, was hab' ich an den Abenden alles
gelernt!"
Der Amtsrat wurde unwirsch. „Bei der Gelehr-
samkeit werde ich nicht satt, und die Seeluft,hier
macht hungrig. Ich werde nur erlauben, im Ostfee-
hotel drei Plätze zu belegen —"
„Oh, da sind jetzt noch viele frei!" sagte Studden-
dorf.
„Wir gehen natürlich mit dir," vermittelte Kle-
mentine. „Wenn mein Ehetyrann hungrig ist —
nnd er ist's auf die Minute-"
„Auch noch wie in Hägershof! Auf den Glocken-
schlag kam die Suppe."
„Sie haben alles gut im Gedächtnis."
Damit schritt Klementine voran, Studdendorf
folgte, und der Amtsrat machte den Schluß. Ai-
man auf dem breiteren Laufsteg nebeneinander
gehen konnte, erkundigte sich der Leutnant nach
seinem kleinen Freunde Arnulf, dem er damals die
Reitkünste auf einem Pony beigebracht hatte.
Mit stolzer Genugtuung erzählte die junge Fratz.
Und dann gab's ein fröhliches Mahl wie seit
langem nicht, die Vorratskammern der Vergangen-
heit lieferten immer neue Nahrung des Geistes-
Alle Langeweile war gebannt. Das würde eine
schone, unterhaltsame Sommerfrische werden!
Nach dem üblichen Mittagschläfchen fand man
sich wieder zusammen und blieb es bis zum Abend-
Klementine war voll sprühender Laune.
Die gefülltesten Vorratskammern werden leer,
wenn man verschwenderisch wirtschaftet und nichts
neu hereinholt.
Die junge Frau erfuhr das schmerzlich. So viel
hatte sich ja schließlich in dem stillen Hägershof nicht
zugetragen, daß man davon ungemessene Zeit geistig
leben konnte. Man wiederholte sich, man wußte
nichts mehr. Nach ein paar Tagen schon.
Und da saß sie nun auch hier wieder in ihrem
Strandkorbe und fing Grillen. Aber jetzt war's
schlimmer. Studdendorf hatte ihr Appetit gemacht
auf Unterhaltung, hatte sie gelehrt, daß man sich
auch hier nicht zu langweilen brauchte, und er wie
ihr Mann taten das auch gar nicht.
Der Stettiner Skatbruder hatte eine Entenjagd
gepachtet, und der Amtsrat nut Studdendorf folgten
oft seiner ^Einladung zur Teilnahme. Wenn sie
nicht am Skattischc saßen, lagen sie in: Kahn aus
der Lauer und knallten die aus dem Schilf hervor-
flatternden Enten nieder.
Außerdem hatte Klementine gefunden, day
Studdendorf ein guter, treuherziger Junge geblieben
war, aber auch gerade noch so mäßig an Geistes-
gaben wie einst. Ein Brünnlein, das recht bald
ausgeschöpft war.
So blieb der einzige Erfolg dieser so überschweng-
lich hoffnungsvoll begrüßten Sommerfrische ein M
gewecktes Verlangen nach Erlebnissen.
Wehe, wenn es kam!
Nnd es kam. Kam jetzt, da eine unbehütete
reine Seele nach ihm dürstete.
In Klementines Nachbarschaft hatte sich eine
Familie strandkörblich angesiedelt. Mann und Fratz
badeten täglich aller Wasserkühle zum Trotz. M>t
blau angelaufener Nasenspitze kamen sie zurück,
begrüßt von einem etwa dreijährigen Kinde, das
auch nach elterlicher Abhärtungstheorie erzogen
wurde. Nur mit einem Badetrikot bekleidet, pad-
delte es am seichten Strande, während das zur
Bewachung auserlesene Dienstmädchen, warm ein-
 
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