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schon davon gehört haben, was für eine Heidenarbcit
so ein paar nichtsnutzige Bauernlümmel uns da
verursacht haben. Bei Gott, 's ist wahr: das sauft
und rauft und hat nur eine Moral. Wie das nun in
solchen Fällen hergeht: fällt ein Betrunkener in
den Rinnstein, gleich schreien die Leute und lärmen:
Ein Mord! Ein Mord! So auch hier. Der Fall
liegt für mich klar zutage. Mau kennt das Pack
ja schon zur Genüge. Das will sich auf leichte Art
von der Pflicht des Heeresdienstes drücken, geht hin,
säuft sich zu Tod oder frißt, bis so einen Klotz der
Schlag rührt. Sie werden sehen, Verehrtester,
mein Instinkt wird mich auch diesmal nicht trügen.
Ich habe da eine zu feine Witterung. Bereiten Sie
sich also gefälligst darauf vor, im angedeuteten Sinne
den Totenschein auszustellen."
„Ganz recht," erwiderte der Arzt, „das heißt,
mit Verlaub zu bemerken, falls der Leichenbefund
wirklich keine andere Todesursache ergeben sollte."
„Wie?!" fragte der Polizeimeister unwillig,
machte einen raschen Schritt auf den Arzt zu und
sagte in sehr entschiedenem Tone, dabei unausgesetzt
dem Arzt in die Augen blickend: „Sie lieben es wohl,
Opposition zu machen! Das ist sehr schlimm für
einen Beamten. Habe ich Ihnen nicht klar und
deutlich gesagt, daß der Fall für mich schon so gut
wie entschieden ist?" Der Polizeimeister näherte sich
noch mehr dem Gerichtsarzt und sagte: „Im Hause
des reichen Branntweinpächters — und ich glaube
ihn zu kennen — kann überhaupt kein Mord passieren
— verstehen Sie jetzt, mein Herr?" Plötzlich änderte
er sein Gebaren und richtete die sehr vertrauliche
Frage an den Arzt: „Was halten Sie übrigens von
unserem neuen Gouverneur? Unter uns gesagt:
ein rechter Schweinehund! Ich bin überzeugt, der
Mensch mogelt beim Kartenspiel, daß es nur so eine
Art hat. Sie selbst soll er ja auch ganz jämmerlich
gerupft haben, wie man sagt. Stimmt das?"
Den Arzt berührte die Frage offensichtlich sehr
unangenehm. „Daß der Herr Gouverneur unehrlich
spielt, könnte ich wirklich nicht behaupten," erwiderte
er. „Daß ich beim Pokerspiel eine namhafte Summe
an Seine Erlaucht zu verspielen die Ehre hatte, das
allerdings stimmt."
„Sehen Sie, daß es stimmt, sehen Sie!" froh-
lockte der Polizeimeister, obschon dies doch gar kein
Grund zur Freude, jedenfalls aber sehr unschicklich
war in Gegenwart des unglücklichen Spielers.
„Nun, nun, ein paar hundert Rubelchen — Gott
mit ihnen! Das sollte Sie wirklich nicht weiter ver-
stimmen, mein sehr ehrenwerter Herr Amtsbruder.
Gott hat Ihnen ein Amt gegeben und damit gewiß
auch Verstand, wie der Deutsche zu sagen Pflegt.
Rechtfertigen Sie also das Vertrauen, das Gott
mit Verleihung eines Amtes in Sie gesetzt hat, und
seien Sie in dem Maße verständig, wie der Brannt-
weinpächter — wir wollen's hoffen! —- vernünftig
sein wird. — So wollen wir denn in Gemeinsamkeit
daran gehen, den Fall auch in den Augen der
Öffentlichkeit richtig aufzuklären."
In zwei Wagen fuhr die Mordkommission nach
dem Schauplatz des Verbrechens. Viel neugieriges
Volk hatte sich auf die entsetzliche Kunde hin im
Handumdrehen dort zusammengezogen und um-
drängte nun, Meinungen austauschend und allerlei
Vermutungen aufstellend, die Schenke. „Trau einer
dem Branntweinpächter!" schmälte der bucklige
Arem, der sechs Tage in der Woche auf der Brannt-
weintonne drinnen im Kabak gleich rechterhand der
Tür, am siebenten Tage aber als fleißiger Schuster
auf seinem Dreibein zu sitzen Pflegte, „das sind
alles abgefeimte Spitzbuben und herzlose Ausbeuter,
diese Herren Branntweinpächter, bei denen Meister
Beelzebub noch in die Lehre gehen könnte. Ihr
versteht mich, Brüder, wie ich das meine! Woher
hätten die sonst die vielen Millionen, während wir
so arm sind, daß wir nicht einmal am Sonntag
einen Tropfen Schnaps schlucken können. Und so
etwas nennt die Welt dann arme Schlucker — ha,
ha! Na, jetzt sitzt er ja schön in der Patsche! —
Brüder, hab' ich es nicht immer schon zu meiner Frau
gesagt, wenn sie sich darüber beschwerte und weinte,
daß die Frau Flickschneiderin über der Straße schon
wieder ein neues, schöngeblümtes Kopftuch habe:
,Frau,° sagte ich dann immer zu ihr, ,es gibt eine
Vergeltung, wart's ab/ Und jedesmal, wenn der
schmutzige Geizkragen von einem Branntwein-
pächter mir nicht einmal ein Viertelchen Schnaps
pumpen wollte, da ich doch als rechtgläubiger Mann
meine letzte Kopeke mir für den Opferstock aufsparen
muß, da dachte ich noch immer so im stillen: Bruder-
herz, der du für deine Mitmenschen überhaupt kein
Herz mehr zu haben scheinst, wohl aber der größte
Saufbruder im ganzen Bezirke bist, dich trifft gewiß
noch einmal Gottes Vergeltung, wart's nur ab!
Da — nun habt ihr die Vergeltung! Daß so etwas
in seinem Haus passieren mußte, das bringt ihn
.- V35 Luch fül- Mle —'" —n
noch um all sein Hab und Gut, wenn nicht gar unter
die Knute oder auf die Fronfeste. — Kinder, ich
kannte einen Gutsbesitzer — ich darf Wohl sagen,
daß es mein Wohltäter gewesen — nicht gerade
verwandt, aber doch gut befreundet mit mir. Na
schön, auf dessen Feldern fanden sie eines Tages
eine weibliche Leiche. Irgend so ein Unmensch
wird das Täubchen wohl etwas zu derb gedrückt
haben, bis ihr — na, mich geht's ja weiter nichts an.
Jedenfalls bekam die Polizei Wind von der Sache
und hatte nichts Eiligeres zu tun, als den Guts-
besitzer, unter dessen Augen gewissermaßen so etwas
passieren konnte, durch allerlei raffinierte Schikanen,
Drohungen und Schreckungen nach und nach bis
aufs Hemd —"
„Pst! Willst du still sein, Arem!" Diese mit
einem heftigen Puff in die Seite begleiteten Worte
ließen den Schuster unwillig sich umkehren. „Siehst
du denn nicht," fuhr der andere unbeirrt fort, „wie
so ein Wolfshund von einem Ssotski sich an uns
heranschleicht!"
In der Tat erschienen in diesem Augenblick
einige Polizeisoldaten auf dem Plan, so daß der
bucklige Schuster die interessante Geschichte von dem
Gutsbesitzer, der weiblichen Leiche und der Polizei
zu seinem großen Leidwesen sich verkneifen mußte.
„Platz für Seine Hochwohlgeboren, den Herrn
Polizeimeister!" schrien die Ssotski und trieben mit
Kolbenstößen die Gaffer zurück.
Die Herren von der Mordkommission verfügten
sich ungesäumt in das Innere der Schenke, woselbst
ihnen der Wirt ehrerbietigst entgegentrat. Der
Polizeimeister faßte den Pächter scharf ins Auge,
worauf dieser den breiten Schädel auf die rechte
Schulter legte und die Worte sprach: „Belieben
Euer Wohlgeboren sich wohl zu fühlen unter meinem
bescheidenen Dache. — Vielleicht eine Tasse Tee
gefällig, Väterchen, oder ein Schluck wärmenden
Branntweins? Es ist kalt draußen, sehr kalt —"
Der Beamte schien die freundliche Einladung
ganz überhört zu haben. „Folge mir dort hinein,
Pawel Pawlowitsch!" herrschte er den Pächter an.
„Ich habe in der bewußten Kriminalsache ein Wort
mit dir zn reden."
„Ganz wie Euer Wohlgeboren befehlen," stotterte
der nichts Gutes ahnende Pächter. „In der Tat,
ganz wie Euer Wohlgeboren zu befehlen geruhen."
Ohne seine geduckte Haltung aufzugeben, dienerte
der Pächter den Beamten nach der Tür des Neben-
zimmers, die er weit aufstieß.
Kaum hatte sich die Tür hinter beiden geschlossen,
als sich der Polizeimeister mit einer raschen Bewe-
gung gegen den Pächter kehrte und ihm die furchtbare
Beschuldigung ins Gesicht schleuderte: „Pawel
Pawlowitsch, du hast dich eines Mordes schuldig
gemacht!"
Der Pächter starrte den Beamten an, als sähe
er ein Gespenst.
Unbeirrt suhr jener fort: „Für deine Blutschuld
zeugen die übereinstimmenden Aussagen einer Reihe
glaubhafter Zeugen, die alle beeiden können, daß
du mit den Worten: ,Hinaus, wenn ench euer
Leben lieb ist!' den Bauern mit einem tödlichen
Fausthieb zu Boden geschlagen hast. Im Namen
Seiner Majestät des Zaren verhafte ich dich, Pawel
Pawlowitsch."
Es dauerte eine geraume Weile, ehe der Pächter
den furchtbaren Sinn der Worte fassen konnte.
Noch immer stand er da und lächelte ein so kindisch-
blödes und doch so qualvolles Lächeln, das zu sagen
schien: Euer Wohlgeboren belieben recht grausame
Scherze zu machen! Er wagte es sogar, dem Ty-
rannen sekundenlang ins Gesicht zu starren, um aus
dessen Zügen den wahren Sinn der Worte heraus-
zulesen. Doch nur Ernst und Kälte lagerten um
die Stirn des Gewaltigen wie unheilschwangere
Wolkenballen um des Berges eiserstarrtes Haupt.
Da erkannte der Unglückliche die Hoffnungs-
losigkeit seiner Lage, ein Ruck ging durch seinen
mächtigen Körper — im nächsten Augenblick stürzte
er wie ein Elefant, der unter der Kugel des Jägers
zusammenbricht, zu Boden, raufte sich die Haare
und rief ein über das andere Mal aus: „Gnade,
Euer Wohlgeboren, Gnade! — Ich bin unfchuldig,
Gott zum Zeugen-"
Der starke Mann wimmerte wie ein Kind, daß
es einen Stein hätte erbarmen mögen.
Sergius Sergewitsch rührte es nicht. Nicht
einmal ein Härchen feines Schnurrbartes zuckte.
Er schien mit der Wirkung seiner Worte vollkommen
zufrieden zu sein, hütete sich aber wohlweislich, auch
nur das geringste davon merken zu lassen.
Ohne Miene oder Haltung zu verändern, fuhr
er den Jammernden an: „Schweig still — so sagen
sie alle! Gottlob, man hat hinreichend sicher und
schnell wirkende Mittel, um selbst dem verstocktesten
Missetäter ein Geständnis abzuringen. Das Aus-
peitfchen wenigstens hättest du dir ersparen können.
_ kiest 24
Aber du willst es ja nicht besser haben, du verhärteter
Bösewicht. Mach' du nun erst einmal mit dem
Knutenmeister Bekanntschaft. Die Knutenhiebe
und was für saftige Hiebe! — nimmt dir dann kein
Doktor mehr ab. Höchstens daß man zur Linderung
deiner Schmerzen so ein kleines Büchschen weißen
Pfeffers dir ins aufgeplatzte Fleisch streut. Erst
neulich habe ich so einen Fall erlebt. Und was
geschieht? Der Bursche, ein junges Blut von acht-
zehn Jahren, hat alles gestanden, was du von ihm
hören wolltest, aber auch alles! — Bereite dich bei-
zeiten darauf vor, eine kleine Reise nach Sibirien
antreten zu müssen. Immer hübsch zu Fuß, Laster
mit Laster zusammengeschmiedet, tagelang, wochen-
lang. Ein Mensch mit einem so robusten Körperbau
wie der deinige findet zwischen Tobolsk und Irkutsk
Arbeit in Hülle und Fülle — und was für Arbeit!
— Nun, Pawel Pawlowitsch, willst du immer noch
nicht bekennen?"
Der Pächter krümmte sich am Boden wie ein
Wurm: „Gnade, Euer Wohlgeboren, Gnade! Was
sollte ich, der ich doch ein rechtschaffener Mensch bin,
auch zu bekennen haben?"
Der Polizeimeister verschärfte die geistige Folter
um einige Grade. „Sieh einer die verstockte Ka-
naille!" knirschte er zwischen den Zähnen hindurch-
„Wie kann ein Mensch bloß ein so erbärmlicher Ver-
brecher sein und gleichwohl so feiste, hübsche Wänglein
haben, daß es einem ordentlich leid tun kann um die
gesunde, natürliche Farbe derselben, die in einigen
Wochen schon unter dem glühenden Brandeisen
dahinschwinden wird!"
Beim Anhören dieser Worte zuckte der Pächter
zusammen, als fühle er jetzt schon das glühende
Eifen ihm Stirn und Wangen schänden. Sogar
den widerlichen Geruch verbrannten Menfchen-
fleisches glaubte er zu riechen, so lebhaft arbeitete
feine erschreckte Einbildungskraft. Unwillkürlich,
wie um sich zu schützen, schlug er beide Hände vors
Gesicht und ließ erbarmungheischend sein gemartertes
Menschenhaupt auf die schmierigen, tranduftenden
Stiefel des Polizeityrannen finken, der lauernd auf
fein Opfer niederblickte. „Rettet mich, Väterchen
Wohltäter — um Christi Blut willen!" schrie der
vor Angst und Verzweiflung halb wahnsinnige
Pächter zwischen feinen Händen hervor mit einer
Stimme, die aus dem Grabe zu dringen schien-
„Mein Leben will ich euch schenken, nur rettet
einen Unschuldigen, Väterchen —"
Der Polizeimeister frohlockte innerlich. Laut
aber höhnte er: „Dein Leben? Fürwahr, kein übler
Witz! Vergiß nicht, Mensch, daß du dein Leben mit
deinem Verbrechen endgültig verwirkt hast."
An dem ganzen Gebaren des Gefolterten erkannte
der gerissene Polizeimensch, daß nun der rechte
Augenblick gekommen sei, das Verhalten gegenüber
seinem Opfer zu ändern und dem Ertrinkenden
edelmütig die rettende Hand zu bieten. Er stimmte
daher sein polterndes Organ auf einen mehr sanf-
teren Klang und rief schmerzlich bewegt aus: „Pawel
Pawlowitsch, wie konntest du nur ein so blutiges
Verbrechen begehen! Kaum daß ich es fasse!
Erhebe dich und höre stehend an, was ich mit dir
zu sprechen habe. Bist du ein Sektierer oder ein
Rechtgläubiger, mein Sohn?"
„Ein Rechtgläubiger, Euer Gnaden," antwortete
der Pächter, sich in die Knie aufrichtend.
„So glaubst du also an Gott und die irdische Ge-
rechtigkeit?"
„Ich glaube —"
„Nun, Pawel Pawlowitsch, so schwöre rch drr
beim Namen dieses Gottes und der Heiligkeit des
Gesetzes, daß ich den aufrichtigen Willen habe, »m
deiner bußfertigen Gesinnung willen dich vor dem
Hundeleben in den sibirischen Bleibergwerken Zu
retten. Wie aber kann ich das, da du mir etwas
schenken willst, was in Wirklichkeit gar nicht mehr
dir gehört? Nicht eine Kopeke gebe ich mehr für
dein Leben, ist erst einmal die Untersuchung richtig
im Gange. — Überleg dir das wohl, Brüderchen!
Der Pächter hätte kein Russe sein müssen, um
nicht sofort den Braten zu riechen. Ein belebendes
Gefühl hoffender Freude durchzog sein Herz. „Aber
so sagt mir doch, Väterchen, was sich tun läßt, »M
die Untersuchung aufzuhalten?"
„Aufzuhalten?" äffte ihn der Polizeimeister nach-
„Aufgehalten kann die Untersuchung nicht mehr
werden, wohl aber könnte man sie unter gewisseu
Voraussetzungen in andere Bahnen lenken. Ver-
stehst du jetzt?"
„Wie sollte ich nicht, Väterchen —"
Der Polizeimeister nickte befriedigt, indem Hf'
fortfuhr: „Dann wirst du auch einsehen, daß hie
Sache mit namhaften Schwierigkeiten verknüpft w-
Zugegeben, daß es meinem Scharfsinn und guten
Willen auch gelingt, die gegen dich vorliegenden, sehf
erheblichen Verdachtsmomente des vollendeten Mor-
des beziehungsweise Totschlags zu zerstreuen, w
schon davon gehört haben, was für eine Heidenarbcit
so ein paar nichtsnutzige Bauernlümmel uns da
verursacht haben. Bei Gott, 's ist wahr: das sauft
und rauft und hat nur eine Moral. Wie das nun in
solchen Fällen hergeht: fällt ein Betrunkener in
den Rinnstein, gleich schreien die Leute und lärmen:
Ein Mord! Ein Mord! So auch hier. Der Fall
liegt für mich klar zutage. Mau kennt das Pack
ja schon zur Genüge. Das will sich auf leichte Art
von der Pflicht des Heeresdienstes drücken, geht hin,
säuft sich zu Tod oder frißt, bis so einen Klotz der
Schlag rührt. Sie werden sehen, Verehrtester,
mein Instinkt wird mich auch diesmal nicht trügen.
Ich habe da eine zu feine Witterung. Bereiten Sie
sich also gefälligst darauf vor, im angedeuteten Sinne
den Totenschein auszustellen."
„Ganz recht," erwiderte der Arzt, „das heißt,
mit Verlaub zu bemerken, falls der Leichenbefund
wirklich keine andere Todesursache ergeben sollte."
„Wie?!" fragte der Polizeimeister unwillig,
machte einen raschen Schritt auf den Arzt zu und
sagte in sehr entschiedenem Tone, dabei unausgesetzt
dem Arzt in die Augen blickend: „Sie lieben es wohl,
Opposition zu machen! Das ist sehr schlimm für
einen Beamten. Habe ich Ihnen nicht klar und
deutlich gesagt, daß der Fall für mich schon so gut
wie entschieden ist?" Der Polizeimeister näherte sich
noch mehr dem Gerichtsarzt und sagte: „Im Hause
des reichen Branntweinpächters — und ich glaube
ihn zu kennen — kann überhaupt kein Mord passieren
— verstehen Sie jetzt, mein Herr?" Plötzlich änderte
er sein Gebaren und richtete die sehr vertrauliche
Frage an den Arzt: „Was halten Sie übrigens von
unserem neuen Gouverneur? Unter uns gesagt:
ein rechter Schweinehund! Ich bin überzeugt, der
Mensch mogelt beim Kartenspiel, daß es nur so eine
Art hat. Sie selbst soll er ja auch ganz jämmerlich
gerupft haben, wie man sagt. Stimmt das?"
Den Arzt berührte die Frage offensichtlich sehr
unangenehm. „Daß der Herr Gouverneur unehrlich
spielt, könnte ich wirklich nicht behaupten," erwiderte
er. „Daß ich beim Pokerspiel eine namhafte Summe
an Seine Erlaucht zu verspielen die Ehre hatte, das
allerdings stimmt."
„Sehen Sie, daß es stimmt, sehen Sie!" froh-
lockte der Polizeimeister, obschon dies doch gar kein
Grund zur Freude, jedenfalls aber sehr unschicklich
war in Gegenwart des unglücklichen Spielers.
„Nun, nun, ein paar hundert Rubelchen — Gott
mit ihnen! Das sollte Sie wirklich nicht weiter ver-
stimmen, mein sehr ehrenwerter Herr Amtsbruder.
Gott hat Ihnen ein Amt gegeben und damit gewiß
auch Verstand, wie der Deutsche zu sagen Pflegt.
Rechtfertigen Sie also das Vertrauen, das Gott
mit Verleihung eines Amtes in Sie gesetzt hat, und
seien Sie in dem Maße verständig, wie der Brannt-
weinpächter — wir wollen's hoffen! —- vernünftig
sein wird. — So wollen wir denn in Gemeinsamkeit
daran gehen, den Fall auch in den Augen der
Öffentlichkeit richtig aufzuklären."
In zwei Wagen fuhr die Mordkommission nach
dem Schauplatz des Verbrechens. Viel neugieriges
Volk hatte sich auf die entsetzliche Kunde hin im
Handumdrehen dort zusammengezogen und um-
drängte nun, Meinungen austauschend und allerlei
Vermutungen aufstellend, die Schenke. „Trau einer
dem Branntweinpächter!" schmälte der bucklige
Arem, der sechs Tage in der Woche auf der Brannt-
weintonne drinnen im Kabak gleich rechterhand der
Tür, am siebenten Tage aber als fleißiger Schuster
auf seinem Dreibein zu sitzen Pflegte, „das sind
alles abgefeimte Spitzbuben und herzlose Ausbeuter,
diese Herren Branntweinpächter, bei denen Meister
Beelzebub noch in die Lehre gehen könnte. Ihr
versteht mich, Brüder, wie ich das meine! Woher
hätten die sonst die vielen Millionen, während wir
so arm sind, daß wir nicht einmal am Sonntag
einen Tropfen Schnaps schlucken können. Und so
etwas nennt die Welt dann arme Schlucker — ha,
ha! Na, jetzt sitzt er ja schön in der Patsche! —
Brüder, hab' ich es nicht immer schon zu meiner Frau
gesagt, wenn sie sich darüber beschwerte und weinte,
daß die Frau Flickschneiderin über der Straße schon
wieder ein neues, schöngeblümtes Kopftuch habe:
,Frau,° sagte ich dann immer zu ihr, ,es gibt eine
Vergeltung, wart's ab/ Und jedesmal, wenn der
schmutzige Geizkragen von einem Branntwein-
pächter mir nicht einmal ein Viertelchen Schnaps
pumpen wollte, da ich doch als rechtgläubiger Mann
meine letzte Kopeke mir für den Opferstock aufsparen
muß, da dachte ich noch immer so im stillen: Bruder-
herz, der du für deine Mitmenschen überhaupt kein
Herz mehr zu haben scheinst, wohl aber der größte
Saufbruder im ganzen Bezirke bist, dich trifft gewiß
noch einmal Gottes Vergeltung, wart's nur ab!
Da — nun habt ihr die Vergeltung! Daß so etwas
in seinem Haus passieren mußte, das bringt ihn
.- V35 Luch fül- Mle —'" —n
noch um all sein Hab und Gut, wenn nicht gar unter
die Knute oder auf die Fronfeste. — Kinder, ich
kannte einen Gutsbesitzer — ich darf Wohl sagen,
daß es mein Wohltäter gewesen — nicht gerade
verwandt, aber doch gut befreundet mit mir. Na
schön, auf dessen Feldern fanden sie eines Tages
eine weibliche Leiche. Irgend so ein Unmensch
wird das Täubchen wohl etwas zu derb gedrückt
haben, bis ihr — na, mich geht's ja weiter nichts an.
Jedenfalls bekam die Polizei Wind von der Sache
und hatte nichts Eiligeres zu tun, als den Guts-
besitzer, unter dessen Augen gewissermaßen so etwas
passieren konnte, durch allerlei raffinierte Schikanen,
Drohungen und Schreckungen nach und nach bis
aufs Hemd —"
„Pst! Willst du still sein, Arem!" Diese mit
einem heftigen Puff in die Seite begleiteten Worte
ließen den Schuster unwillig sich umkehren. „Siehst
du denn nicht," fuhr der andere unbeirrt fort, „wie
so ein Wolfshund von einem Ssotski sich an uns
heranschleicht!"
In der Tat erschienen in diesem Augenblick
einige Polizeisoldaten auf dem Plan, so daß der
bucklige Schuster die interessante Geschichte von dem
Gutsbesitzer, der weiblichen Leiche und der Polizei
zu seinem großen Leidwesen sich verkneifen mußte.
„Platz für Seine Hochwohlgeboren, den Herrn
Polizeimeister!" schrien die Ssotski und trieben mit
Kolbenstößen die Gaffer zurück.
Die Herren von der Mordkommission verfügten
sich ungesäumt in das Innere der Schenke, woselbst
ihnen der Wirt ehrerbietigst entgegentrat. Der
Polizeimeister faßte den Pächter scharf ins Auge,
worauf dieser den breiten Schädel auf die rechte
Schulter legte und die Worte sprach: „Belieben
Euer Wohlgeboren sich wohl zu fühlen unter meinem
bescheidenen Dache. — Vielleicht eine Tasse Tee
gefällig, Väterchen, oder ein Schluck wärmenden
Branntweins? Es ist kalt draußen, sehr kalt —"
Der Beamte schien die freundliche Einladung
ganz überhört zu haben. „Folge mir dort hinein,
Pawel Pawlowitsch!" herrschte er den Pächter an.
„Ich habe in der bewußten Kriminalsache ein Wort
mit dir zn reden."
„Ganz wie Euer Wohlgeboren befehlen," stotterte
der nichts Gutes ahnende Pächter. „In der Tat,
ganz wie Euer Wohlgeboren zu befehlen geruhen."
Ohne seine geduckte Haltung aufzugeben, dienerte
der Pächter den Beamten nach der Tür des Neben-
zimmers, die er weit aufstieß.
Kaum hatte sich die Tür hinter beiden geschlossen,
als sich der Polizeimeister mit einer raschen Bewe-
gung gegen den Pächter kehrte und ihm die furchtbare
Beschuldigung ins Gesicht schleuderte: „Pawel
Pawlowitsch, du hast dich eines Mordes schuldig
gemacht!"
Der Pächter starrte den Beamten an, als sähe
er ein Gespenst.
Unbeirrt suhr jener fort: „Für deine Blutschuld
zeugen die übereinstimmenden Aussagen einer Reihe
glaubhafter Zeugen, die alle beeiden können, daß
du mit den Worten: ,Hinaus, wenn ench euer
Leben lieb ist!' den Bauern mit einem tödlichen
Fausthieb zu Boden geschlagen hast. Im Namen
Seiner Majestät des Zaren verhafte ich dich, Pawel
Pawlowitsch."
Es dauerte eine geraume Weile, ehe der Pächter
den furchtbaren Sinn der Worte fassen konnte.
Noch immer stand er da und lächelte ein so kindisch-
blödes und doch so qualvolles Lächeln, das zu sagen
schien: Euer Wohlgeboren belieben recht grausame
Scherze zu machen! Er wagte es sogar, dem Ty-
rannen sekundenlang ins Gesicht zu starren, um aus
dessen Zügen den wahren Sinn der Worte heraus-
zulesen. Doch nur Ernst und Kälte lagerten um
die Stirn des Gewaltigen wie unheilschwangere
Wolkenballen um des Berges eiserstarrtes Haupt.
Da erkannte der Unglückliche die Hoffnungs-
losigkeit seiner Lage, ein Ruck ging durch seinen
mächtigen Körper — im nächsten Augenblick stürzte
er wie ein Elefant, der unter der Kugel des Jägers
zusammenbricht, zu Boden, raufte sich die Haare
und rief ein über das andere Mal aus: „Gnade,
Euer Wohlgeboren, Gnade! — Ich bin unfchuldig,
Gott zum Zeugen-"
Der starke Mann wimmerte wie ein Kind, daß
es einen Stein hätte erbarmen mögen.
Sergius Sergewitsch rührte es nicht. Nicht
einmal ein Härchen feines Schnurrbartes zuckte.
Er schien mit der Wirkung seiner Worte vollkommen
zufrieden zu sein, hütete sich aber wohlweislich, auch
nur das geringste davon merken zu lassen.
Ohne Miene oder Haltung zu verändern, fuhr
er den Jammernden an: „Schweig still — so sagen
sie alle! Gottlob, man hat hinreichend sicher und
schnell wirkende Mittel, um selbst dem verstocktesten
Missetäter ein Geständnis abzuringen. Das Aus-
peitfchen wenigstens hättest du dir ersparen können.
_ kiest 24
Aber du willst es ja nicht besser haben, du verhärteter
Bösewicht. Mach' du nun erst einmal mit dem
Knutenmeister Bekanntschaft. Die Knutenhiebe
und was für saftige Hiebe! — nimmt dir dann kein
Doktor mehr ab. Höchstens daß man zur Linderung
deiner Schmerzen so ein kleines Büchschen weißen
Pfeffers dir ins aufgeplatzte Fleisch streut. Erst
neulich habe ich so einen Fall erlebt. Und was
geschieht? Der Bursche, ein junges Blut von acht-
zehn Jahren, hat alles gestanden, was du von ihm
hören wolltest, aber auch alles! — Bereite dich bei-
zeiten darauf vor, eine kleine Reise nach Sibirien
antreten zu müssen. Immer hübsch zu Fuß, Laster
mit Laster zusammengeschmiedet, tagelang, wochen-
lang. Ein Mensch mit einem so robusten Körperbau
wie der deinige findet zwischen Tobolsk und Irkutsk
Arbeit in Hülle und Fülle — und was für Arbeit!
— Nun, Pawel Pawlowitsch, willst du immer noch
nicht bekennen?"
Der Pächter krümmte sich am Boden wie ein
Wurm: „Gnade, Euer Wohlgeboren, Gnade! Was
sollte ich, der ich doch ein rechtschaffener Mensch bin,
auch zu bekennen haben?"
Der Polizeimeister verschärfte die geistige Folter
um einige Grade. „Sieh einer die verstockte Ka-
naille!" knirschte er zwischen den Zähnen hindurch-
„Wie kann ein Mensch bloß ein so erbärmlicher Ver-
brecher sein und gleichwohl so feiste, hübsche Wänglein
haben, daß es einem ordentlich leid tun kann um die
gesunde, natürliche Farbe derselben, die in einigen
Wochen schon unter dem glühenden Brandeisen
dahinschwinden wird!"
Beim Anhören dieser Worte zuckte der Pächter
zusammen, als fühle er jetzt schon das glühende
Eifen ihm Stirn und Wangen schänden. Sogar
den widerlichen Geruch verbrannten Menfchen-
fleisches glaubte er zu riechen, so lebhaft arbeitete
feine erschreckte Einbildungskraft. Unwillkürlich,
wie um sich zu schützen, schlug er beide Hände vors
Gesicht und ließ erbarmungheischend sein gemartertes
Menschenhaupt auf die schmierigen, tranduftenden
Stiefel des Polizeityrannen finken, der lauernd auf
fein Opfer niederblickte. „Rettet mich, Väterchen
Wohltäter — um Christi Blut willen!" schrie der
vor Angst und Verzweiflung halb wahnsinnige
Pächter zwischen feinen Händen hervor mit einer
Stimme, die aus dem Grabe zu dringen schien-
„Mein Leben will ich euch schenken, nur rettet
einen Unschuldigen, Väterchen —"
Der Polizeimeister frohlockte innerlich. Laut
aber höhnte er: „Dein Leben? Fürwahr, kein übler
Witz! Vergiß nicht, Mensch, daß du dein Leben mit
deinem Verbrechen endgültig verwirkt hast."
An dem ganzen Gebaren des Gefolterten erkannte
der gerissene Polizeimensch, daß nun der rechte
Augenblick gekommen sei, das Verhalten gegenüber
seinem Opfer zu ändern und dem Ertrinkenden
edelmütig die rettende Hand zu bieten. Er stimmte
daher sein polterndes Organ auf einen mehr sanf-
teren Klang und rief schmerzlich bewegt aus: „Pawel
Pawlowitsch, wie konntest du nur ein so blutiges
Verbrechen begehen! Kaum daß ich es fasse!
Erhebe dich und höre stehend an, was ich mit dir
zu sprechen habe. Bist du ein Sektierer oder ein
Rechtgläubiger, mein Sohn?"
„Ein Rechtgläubiger, Euer Gnaden," antwortete
der Pächter, sich in die Knie aufrichtend.
„So glaubst du also an Gott und die irdische Ge-
rechtigkeit?"
„Ich glaube —"
„Nun, Pawel Pawlowitsch, so schwöre rch drr
beim Namen dieses Gottes und der Heiligkeit des
Gesetzes, daß ich den aufrichtigen Willen habe, »m
deiner bußfertigen Gesinnung willen dich vor dem
Hundeleben in den sibirischen Bleibergwerken Zu
retten. Wie aber kann ich das, da du mir etwas
schenken willst, was in Wirklichkeit gar nicht mehr
dir gehört? Nicht eine Kopeke gebe ich mehr für
dein Leben, ist erst einmal die Untersuchung richtig
im Gange. — Überleg dir das wohl, Brüderchen!
Der Pächter hätte kein Russe sein müssen, um
nicht sofort den Braten zu riechen. Ein belebendes
Gefühl hoffender Freude durchzog sein Herz. „Aber
so sagt mir doch, Väterchen, was sich tun läßt, »M
die Untersuchung aufzuhalten?"
„Aufzuhalten?" äffte ihn der Polizeimeister nach-
„Aufgehalten kann die Untersuchung nicht mehr
werden, wohl aber könnte man sie unter gewisseu
Voraussetzungen in andere Bahnen lenken. Ver-
stehst du jetzt?"
„Wie sollte ich nicht, Väterchen —"
Der Polizeimeister nickte befriedigt, indem Hf'
fortfuhr: „Dann wirst du auch einsehen, daß hie
Sache mit namhaften Schwierigkeiten verknüpft w-
Zugegeben, daß es meinem Scharfsinn und guten
Willen auch gelingt, die gegen dich vorliegenden, sehf
erheblichen Verdachtsmomente des vollendeten Mor-
des beziehungsweise Totschlags zu zerstreuen, w