Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 50.1915

DOI Heft:
Heft 25
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.47351#0557
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
lieft 25

v35 Luch fül- M!e ...ti-- 559

„Hinliegen!" hieß cs jetzt.
Sie lagen blitzschnell am Boden und drückten die
Nasen auf die gefrorene Erde.
Hildenbrandt knurrte: „Weun man wenigstens
schießen dürste! Die Halunken treffen ja nichts.
Und dabei der gräßliche Mondschein!"
Das Jnfanteriegekläff hatte nachgelassen. Eine
kurze Feuerpause war entstanden.
„Sprung auf — marsch marsch!"
Gleich graueu Katzen stürzten sie vor. Wohl
dreißig Meter weit. Aber die kurze Spanne war für
viele der Todessprung.
Wieder lagen sie platt auf der Erde. Dicht vor
Karl Maisack ruhte ein unheimliches Etwas. Der
Mond beleuchtete ein fahles, knabenhaftes Antlitz.
Wutverzerrt, mit hochgezogener Oberlippe, aber

Wie es hier anssah! Wie war das Häuflein klein
geworden! Nach rückwärts lagen haufenweise die
Leichen.
Schwerverwundete wimmerten, hinter den
Schützen krochen Leichtverwundete und verteilten
ihre letzten Patronen. Da und dort lag in der
Schützenlinie einer, der längst getroffen war, aber
trotzig weiterschoß.
Im dichten Wald, keine dreißig Meter vor ihnen,
war die russische Verschanzung. Einige Feinde muß-
ten schon hinter den nächsten Bäumen stehen. Man
sah ihre Schüsse auffunken. Jetzt eben, kaum daß
die Hilfe ankam, zeigten sich überall vor ihnen dunkle
Gestalten. Ein Angriff schien es. Aber unter dem
verstärkten deutschen Gewehrseuer zogen sich die
Feinde rasch wieder hinter ihre sichere Deckung

Deutlich hörte er jetzt das gewaltige Flügelschlagen
zwischen den Baumkronen.
„Sieg!" war sein erster klarer Gedanke. „Wir
haben die russische Stellung!"
Er machte eine Bewegung und fühlte einen
heftigen Schmerz. Mühsam besann er sich und
wußte, daß er einen kurzen, harten Schlag verspürt
hatte. Er wollte sich aufrichten, aber der rechte Fuß
versagte den Dienst. Kein Zweifel — er war ge-
troffen. Die Kugel mußte einen Knochen zerschmettert
haben. Er fühlte sein Blut in den Stiefel rinnen.
Nun galt es, sich zurückbringen zur nächsten Ver-
bandstelle. Es war ein mühseliges, schmerzhaftes
Kriechen auf Knien und Händen. Von allen Seiten
kamen Hilferufe verwundeter Kameraden. Ein
Stöhnen, Schreien, Flehen in Tönen, die wie Eis-

kalt, starr —
Welcher Mutter Sohn mochte das sein? Doch
nur nicht denken — nur jetzt uicht!

zurück.
„Die Feiglinge!" sagte einer neben Karl. „Schon
dreimal waren sie da. Sie haben keinen Mut!"

zapseu ius Herz bohreu. Und er selbst war hilflos,
unfähig zum kleinsten Liebesdienst. Grausam war es!
Bitt größter Anstrengung und unsagbaren Ge-



Ein Hornsignal. Von allen Seiten klingt es
wider: „Seitengewehr pflanzt auf!"
„Karl, hierher! Im Chaussecgraben!"
Der Hildenbrandt hatte es gerufen. Nun gingen
sie gebückt im Graben hintereinander. Die Bajonette
blitzten im Mondschein und lockten die feindlichen
Kugeln an. Immer öfter mußten sie über die Leiche
eines Kameraden. Schwerverwundete kauerten im
Graben. Und immer
noch nicht waren sie in
der vordersten Linie, da,
wo die Kameraden auf
ihre Hilfe warteten.
Während einer Atem-
pause am Boden kam
von rechts der Ruf:
„Der Leutuaut ist ge-
falleu! Die achte Kom-
panie hört auf das Kom-
mando des Feldwebels
Schmidt! — Vorwärts,
Kinder, wir haben's
gleich geschafft!"
Sie sahen jetzt den
Waldrand. Immer s chär-
fer trat das vorgescho-
bene Wäldchen in Er-
scheinung. Dort tobte
ein heißer Kampf. Von
dort kamen die Jn-
fantcricsalvcn. Dunkle
Flecke hoben sich ab in
blasser Mondhelle. Das
mußten sie sein, die
Kameraden. Es galt
einen letzten, verwege-
nen Lauf.
Aus dem Straßen-
graben, der einiger-
maßen Deckung bot,
und über das brache
Feld keuchte der linke
Flügel der Achten. Ein
hirnverwirrendes Ge-
knatter empfing sie.
Der ganze Wald sprühte
wie ein Höllenrachen
und spie Tod und Verderben zwischen die tapferen
Stürmer.
Karl Maisack taumelte vorwärts, wie betäubt,
nicht imstande, irgend etwas zu denken. Jetzt denken,
war so viel wie Wahnsinn! Seine ganze physische
Kraft war erschöpft in dem einen willenlosen Drange:
Vorwärts — zum Waldrand! Eine einzige Sekunde
war ihm bewußt. Sie wurde zu bitterem Erlebnis.
Neben ihm — ein kurzer dumpfer Laut war es. Und
sein schneller Blick sah den Kameraden vornüber-
stürzen, sah einen dunkeln Strom aus Mund und Nase.
Es war alles wie ein schwerer Rausch. Und dann
fand er sich wieder, am Waldrand liegend. Neben
sich bärtige Gesichter. Nasse Augen. Sie weinten
vor Freude. Seit Nachmittag lagen sie im Gefecht
und bangten und hofften auf Verstärkung. Seit
Stunden waren sie verzagt und hoffnungslos. Mit
dem Löwenmut der letzten Verzweiflung verteidigten
sie sich. „Bis zum letzten Atemzug, wenn es sein
muß!" hatten sie sich zugerufen — nur nicht lebend
in die Hände dieser sibirischen Rotten fallen! Aber
nun waren sie an: Ende. Die Munition war zu-
sammcngeschmolzen bis auf wenige Patronen.
„Schießen, Kinder, was das Zeug hält! Die
sibirischen Hunde sollen meinen, sie Hütten ganze
Divisionen vor sich!"
Ein junger Leutnant war es, der es schrie. Er
hatte längst ein Gewehr in der Hand, schoß selbst
wie besessen in die Dunkelheit des Waldes hinein.
Karl Maisack gab nach links und rechts Patronen
ab und nahm sich einen Augenblick die Zeit, sich um-
zuschauen.


fühlen hatte er sich endlich aus dem Wald iu den
Chausseegraben geschleppt. Noch immer wurde die
Straße stark beschossen. Noch immer platzten Schrap-
nelle nud Granaten, noch immer ratterten die
Maschinengewehre.
Er war lange weitergekrochen über Leichen nnd
Schwerverwundete hinweg. Wenn er, wie es öfter
vorkam, aus dem Graben und über eine Feldeinfahrt
mußte, war es ihm, als
- krachten die Schüsse
schnellerhintercinander.
In Fingerbreite pfif-
fen die Kugeln um sei-
nen Kopf. Ihr Wind
fchlug heiß an seine
Ohren. Einmal mußte
er lange an einer Stelle
liegen geblieben sein.
Er fühlte sich körperlich
matt und kraftlos. Aber
denken konnte er und
sichimmerfort wundern,
daß er noch lebe. Der
Hildenbrandt, sein lie-
ber Kamerad — wie
wird's den: ergehen?
Verwundet lag er wohl
noch drüben im Feld,
wo es jetzt so stumm
und regungslos war.
Hätte er doch noch die
Kraft, zu ihm zu kom-
men nnd ihm kamerad-
schaftliche Liebe zu er-
weisen!
Er kroch weiter.
Wie lange er ge-
krochen und dann wie-
der gelegen hatte, wußte
er uicht. Es waren Ge-
danken über ihn gekom-
men und eine Seelen-
stimmung , wie er sie
noch nie gekannt, wie
sie nur ganz leise noch
von der frühesten Kin-
derzeit in den Armen
der Mutter herübcrdämmerte in sein Mannesgemüt.
Und Plötzlich wußte er's — er hatte gebetet.
Vielleicht waren es gar keine Worte, nur ein unaus-
sprechbarer, inbrünstig reiner Dankesstrom, der aus
seinem Herzen quoll.
Nur leben, weiterlebeu, um noch einmal in die
ruhigen, gütigen Mutteraugen zu schauen, noch ein-
mal seinen Kopf zu legen in diesen Schoß und sich
reinzuweinen von all dem Fürchterlichen in dieser
Nacht! Ihre Hände segnend zu fühlen zwischen
seinen Haaren, diese schwieligen Hände, die doch mit
so unsäglicher Weichheit das letzte Liebespäckchen
geschnürt hatten am Abschiedsabend!
Ein leiser Wind kam von: Wald her. Der Früh-
frost glitzerte am Grabenrand. Karl Maisack fühlte,
daß sein rechter Fuß klumpiger wurde, daß dickes
Blut ihm zwischen Fuß und Stiefel stand. Das
dumpfe Donnern, die hohlen Gewehrschüsse klangen
jetzt so nebelhaft fern. Es war ihm plötzlich so selt-
sam leicht und froh in Herz und Sinn.
Er hörte Musik. Harfenklänge muhten es sein.
Von fernher kamen sie, und fröhlich waren sie.
Irgend eine schöne Freude mußten sic begleiten.
Doch er war müde. Die Glieder lagen bleiern
schwer auf der Erde. Er wollte liege:: und schlafen.
Da platzte eine Granate mitten auf der Straße.
Er schreckte auf. Nur jetzt nicht mehr sterben!
Jetzt nimmermehr!
Mit der letzten Willenskraft kroch er aus dem
Graben. Drüben war ein Rain. 'Er hatte ihn vor-
her nicht gesehen. Wildes Buschwerk wucherte auf
ihm.

Da schlug eine Kugel neben ihm in den harten
Boden. Karl Maisack hatte in der Hand viele kleine
Steinsplitter-.
Fortwährend schwärmten nachrückende Reserven
ein. Schon waren alle Lücken ausgefüllt.
„Kinder, nun müssen wir hinüber! Ihre Stellung
müssen wir haben!" rief der Leutnant.
Signal: „Sturm!"

Um Weiher.
Seitwärts und hinter ihnen aus den Feldern
klingt es. Da schäumt es und braust es und jagt es
heran voi: allen Seiten. Der Sturmgeist ist wie
ein Heller Blitz in die Reihen gefahren. Von tausend-
fachem Fußgetrappel dröhnt die Erde. Die Luft
erschüttert ein wildes, ehernes Hurra! Durch die
Baumkronen geht es wie das Schlagen riesiger
Flügel. Wie ein jähes, lähmendes Grausen, ein
Schrecken, der ins Mark greift.
In Karl Maisack ist eine unmenschliche, übernatür-
liche Wut, für die er sich keine Rechenschaft gibt, für
die er nur einen Ausdruck fiudet: „Hurra! Hurra!
Hurraaaaa!!"
Jawohl, er wird jeden niederschlagen, der sich
ihm jetzt in den Weg stellt!
Graue Gestalten springen über die Wurzelstöcke
gleich jungen Teufeln und hinein in den feindlichen
Graben. Unheimlich grinst der Mond durch das
Geäst. Menschenknüuel da und dort. Waffengeklirr!
Fluchen! Heulen!
Dann ein Augenblick wie das Erlahmen alles
Lebens, wie das triumphierende, gesättigte Raunen
aller Naturgewalt.
Nur einzelne Schüsse krachen deutlicher durch
die Nacht.

Hinter der vorderste:: Stellung am Boden lag
Karl Maisack. Seine gesunde Natur kämpfte sich
langsam durch zu klaren: Bewußtsein. Er sah un-
bestimmt zwischen den Bäumen lange, stumme Ko-
lonnen marschieren — Gefangene. Sie gingen nach
rückwärts. Er hörte Kugeln durch die Zweige brechen.
 
Annotationen