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DasBuchfüvAlle

Heft 4


Phot. A. Grohs.

ihr eigenstes Interesse ist. Diese Leute empfinden die plötzliche
Wandlung als einen Eingriff in ihre persönlichen Rechte, lehnen sich
dagegen auf, und für sie mutzten jene Notgesetze mit Strafandrohung
geschaffen werden, um sie zu verhindern, die Allgemeinheit zu
schädigen.
Aber abgesehen von diesen bewussten Übertretern der neuen sitt-
lichen Ordnung gibt es genug Fälle, in denen sonst durchaus ehren-
hafte Leute sich in die neue Moral nicht schicken können und so un-
bewußt zu Handlungen sich verleiten lassen, die als unsittlich und
strafbar sich erweisen. Einige Beispiele mögen das erläutern.
Ein Gastwirt hat ein gutgehendes Speisehaus für die wohl-
habenden Klassen, denen es weniger auf die Preise, als auf die
beste Beschaffenheit des Gebotenen ankommt. Der Gastwirt ist ein
durchaus ehrenwerter Mann und stand von jeher auf dem Stand-
punkt: „Leben und leben lassen." Er zahlte seinen Lieferanten
höhere Preise als jeder andere und wurde deshalb immer gern
und gut bedient.
Nun kam der Wirtschaftskrieg und mit ihm die Knappheit, das
Sparen, das Haushalten. Der Gastwirt will es nur schwer be-
greifen, datz er seinen
Kunden nicht wie
früher bieten darf,
was sie wollen, aber
schließlich beugt er
sich als guter Bür-
ger dem staatlichen
Zwang und richtet
seine Speisekarte so
ein, wie es die Ver-
ordnungen anbefeh-
len: An gewissen
Tagen fleischlos, an
den anderen nur eine
beschränkte Zahl von
Fleischspeisen und
dergleichen. Soweit
vermag er, mit der
Not der Zeit noch
Schritt haltend, sie
zu begreifen; weiter
aber geht sein Ver-
ständnis nicht. Es
wird schwer, die nöti-
gen Lebensmittel zu
verschaffen; die alten
Lieferanten können
nicht liefern; sie las-
sen ihn im Stich. Er
überhäuft sie mit Vor-
würfen: „Ich zahlte'doch immer gut, und es kommt mir auch heute auf
den Preis nicht an." Man antwortet ihm: „Aber die Höchstpreise?" —
„Ach was, ich mutz mein Geschäft fortführen, meine Gäste müssen essen.
Bringen Sie mir nur Ware, ich zahle Ihnen freiwillig mehr." Und
nun bekommt er wieder Ware, wenn der Händler, wie das menschlich
begreiflich ist, dem freiwilligen Mehrgebot nicht widerstehen kann.
Der Gastwirt entrüstet sich, wie alle Welt, über den Lebensmittel-
wucher und wäre sehr erstaunt, ja empört, wenn man ihm sagen
würde, datz er selbst nicht besser ist wie jene, welche die Preise in
die Höhe treiben, ja datz er selber zu den Wucherern gehört und datz
der Unterschied zwischen ihm und den anderen nur in der Form, nicht
im Wesen der Sache liegt. Denn während der eine unverhüllt,
brutal die Preise in die Höhe schraubt, tut er dasselbe, nur in ver-
hüllter Form. Es ist klar, datz, wenn er freiwillig überbietet, der andere,
um auch Ware zu bekommen, schließlich das gleiche zahlen mutz.
Und wenn sich zuletzt alle gleich Handelnden auch noch so unschuldig
stellen und gegen jede Anzweiflung ihrer Ehrenhaftigkeit empfindlich
sind, weil sie jaheute nichts anderes tun, als sie v o r d e m taten,
nämlich besser zahlen als andere, ihr Treiben ist dennoch heute un-
moralisch und der Allgemeinheit schädlich.
Ein anderes Beispiel. Ein Kaufmann hat sich nach jahrzehnte-
langer Arbeit zur Ruhe gesetzt, sein Geschäft verkauft und lebt von
seinen Zinsen. Nun kommt der Krieg. Der Kaufmann empfindet
auf einmal sein Rentnertum als unpassend; er will wieder arbeiten,
wenigstens solange Mangel an Kräften ist und viele junge Leute
dem Wirtschaftsleben entzogen sind. Diese Auffassung ist durchaus

so oft vergeblich sehnte, leise über die Erde streicht, unter der einer
ruht, dem viel vergeben werden mutz, dann meine ich, müßte ich es
fühlen und Dir danken."
Noch einmal hatte die Frau dies Bekenntnis gelesen. Ihre
schlanken Hände glitten wie in zärtlichem Liebkosen über die feuchte
Erde. Mit wehem Schmerzenslaut warf sie sich über den Hügel
und preßte ihre Lippen wie in heißer Sehnsucht auf den Namen,
den das schlichte Kreuz trug.
Wandlungen des Moralbegriffes im Kriege.
Von Or. Adolf Stark.
ie Begriffe über das, was moralisch oder unmoralisch, was
erlaubt oder unerlaubt ist, sind durchaus nicht feststehend; sie
_ändern sich im Laufe der Zeiten, langsam und fast unmerklich,
aber auch rasch und plötzlich, wenn die Zeitumstände sich ändern,
wie wir es jetzt in der Kriegszeit erleben. Mit den wechselnden
Moralbegriffen ist es — in gewissem Sinne verstanden — wie mit
der Mode, nur datz
es sich bei der erste¬
ren um etwas tief
Innerliches handelt.
Beide aber haben
gemeinsam, daß man
eigentlich nicht sagen
kann, wer sie ge¬
schaffen, datz sie plötz¬
lich da sind und sich
unbestrittene Herr¬
schaft über die Men¬
scher: erringen, die
Mode in Äußerlich¬
keiten, die Moral in
der Art und Weise,
dasLeben zu betrach¬
ten und Sittliches
von Unsittlichem zu
unterscheiden.
Immer, wenn
neue Moralbegriffe
lebendig werden,
wird es Anhänger
der alten Moral
geben, die es nicht
begreifen können,
warum heute uner-
laubt und verächtlich Vom deutschen Flugzeugbau: Fahrgestellmontage,
sem soll, was gestern o / >
gestattet war und umgekehrt, wie man heute das als zulässig aner-
kennen kann, was gestern noch als unanständig und verwerflich galt.
Für die Verfemung des vorher Gestatteten möchte ich als krasses Bei-
spiel die Menschenfresserei wählen. Uns erscheint sie als das scheuß-
lichste, durch nichts zu entschuldigende Verbrechen. Der Kannibale
aber, der unter europäische Herrschaft kommt, wird die Berechtigung
dieser Moralforderung kaum ohne weiteres einzusehen vermögen,
und Generationen werden noch vergehen, ehe sich bei diesen Völkern
die Wandlung der Moralbegriffe in unserem Sinne vollzieht.
Die Kriegszeit mit ihren schweren Nöten rief so bedeutende Ver-
änderungen im öffentlichen und privaten Leben des Volkes und
jedes einzelnen von uns hervor, datz notgedrungen die Moralbegriffe
von gestern sich mit den Tatsachen von heute nicht mehr decken. Und
plötzlich, ohne datz jemand sagen kann, wie es kam, sehen wir neue
Moralbegriffe auftauchen, sehen wir, wie das untrügliche Volks-
empfinden Handlungen als verabscheuungswürdig und verächtlich
brandmarkt, die gestern noch kaum beachtet wurden. Ja selbst die
Justiz, welche sich sonst nur sehr langsam dem Volksempfinden anzu-
passen vermag, beschleunigt ihr Tempo und schafft Notverordnungen,
um das unter Strafe zu stellen, was bisher straflos war.
Dabei mutz es naturgemäß zu Zusammenstößen kommen zwischen
den neuen Moralbegriffen und solchen Leuten, welche die allgemeine
Denkungsänderung nicht mitmachten, sei es, daß die Not der Zeit sie
persönlich nicht so hart traf wie die andern, so datz der innere An-
trieb, das seelische Motiv für die Wandlung fehlt, sei es, datz sie das
Neue zwar erfassen, aber es nicht nntmachen wollen, weil es gegen
 
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