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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 3.1898-1899

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Schölermann, Wilhelm: Neuere Wiener Architektur
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https://doi.org/10.11588/diglit.6386#0229

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Wilhelm Schölermann — Wien:

rung zurück. Dem echten Wiener sind zwei
Dinge nicht in den Kalender geschrieben,
wenigstens nicht annähernd in der Weise,
wie dem Londoner, Berliner oder Pariser,
nämlich der Begriff für den Werth der Zeit
und für die Arbeit um der Arbeit willen!
Ein sanftes, allen Sorgen abholdes Hin-
dämmern im süssen Lethe des Vergnügens,
des Vergnügens um des Vergnügens willen:
das ist die Grundnote des Lebensideals in
dieser Stadt gastfreundlicher Phäaken.

Das Stadtbild des neueren Wien umfasst
bekanntlich eine Reihe von öffentlichen
Bauten, welche eine ausserordentliche Ge-
sammtwirkung in ihrer Anlage und Grup-
pirung auf den Beschauer ausüben. Wenn
man die Namen van der Nüll, Siccardsburg,
Schmidt, Hansen, Ferstel und Hasenauer,
und endlich den grossen Gottfried Semper
nennt, so weiss Jeder, der einmal Wiens
breiten Ringstrassenbogen vom Opernhaus
bis zur Votivkirche gesehen hat, was diese
Namen bedeuten. Diese gewaltige Anlage

erinnert uns an die überaus schaffensselige
Gründerzeit, die Zeit der grossen Aufträge,
wo alle Künstler so viel Geld verdienten,
wie sie nur irgend ausgeben konnten, die
kleinen wie die grossen! In diese üppige
Periode fiel die Durchführung und Voll-
endung der Wiener Stadterweiterung. Na-
mentlich Ausländer waren es, welche den
Wienern ihre neue Stadt aufbauen halfen,
der Däne Hansen und die beiden deutschen
Kraftnaturen Schmidt und Semper. Was
später die Eingeborenen hinzuthaten, war
von minder unverfälschter Kernsprache. Sie
kopirten zierliche französische Gothik aus
der Normandie und verdekorirten und ver-
schnörkelten nach besserem Ermessen die
Renaissance Meister Gottfried's am neuen
Burgtheater und an den beiden Hofmuseen,
im Sinne und Auftrag des sogenannten
Wiener Geschmackes »zweiter Güte«. Wenn
dabei immer noch hinreichend Grosses und
Schönes übrig blieb, so verdanken wir das
wohl weniger dem guten Willen des liebens-
 
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