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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 3.1898-1899

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Schölermann, Wilhelm: Neuere Wiener Architektur
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https://doi.org/10.11588/diglit.6386#0230

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Neuere Wiener Architektur.

199

würdigen Barons von Hasenauer, als viel-
mehr der genialen und unzerstörbaren Gross-
zügigkeit von Semper's Baugedanken. In
granitenen Quadern und Rusticasäulen hat
dieser hohe, männliche Geist sich unver-
gängliche Denkmäler gesetzt, die wie ragende
Alpengipfel die Spielzeug - Architektur der
Hasenauer, Ferstel und Genossen über-
schatten und sie in ihrer ganzen Schwäche
und Dürftigkeit erscheinen lassen.

Und doch — ich wage es auszusprechen
auf die Gefahr hin, von allen guten Wienern
in Boykott erklärt zu werden — arbeitete
diese ganze baulustige Zeit der sechziger,
siebziger und achtziger Jahre eigentlich in
lauter Reminiscenzen. Sie stand mit dem
Gesicht in die Vergangenheit, mit dem
Rücken gegen die Zukunft gekehrt. Die
Zeit selbst hatte keinen Stil. Dafür »besass«
sie alle Stile. Es ist, als hätten alle diese
grossen Stilkünstler im Grunde keinen
anderen Gedanken gehabt, als den Zeit-
genossen gleichsam durch
ein krönendes Werk ihres
Lebens noch einmal zu
zeigen, was verflossene
Jahrhunderte gefühlt und
in der Baukunst zum Aus-
druck des jeweiligen Zeit-
geistes gemacht hatten.
Was Gothik, Klassizität,
Renaissance heisst, das
kann man von ihnen lernen.
Aber keines dieser Ge-
bäude — so viele einzelne
Schönheiten sie auch ent-
halten - spricht zu uns
mit der ganzen, zwingen-
den Beredsamkeit der
Gegenwart, der auch die
Zukunft gehört, weil sie
in uns selber lebt und
wiederspiegelt was wir
denken, hoffen, ahnen, was
wir brauchen und was wir
sind. — Das ist es, was
bei aller wohldurchdachten
Kühnheit der Anlage dem
Gesammtbilde des weit-
räumigen Wiener Ring-

komplexes seine höhere Einheit, seine innere
Wärme und seinen rhythmischen Zusammen-
hang nimmt. Mehr verwundert und staunend,
als bewundernd stand ich vor vier Jahren
zum ersten Mal vor dem Reichsrathsgebäude
Theophil Hansen's, mit seinen korinthischen
Säulensystemen, blickte hinüber auf das im-
ponirende gothische Rathhaus des Dom-
baumeisters Schmidt, ihm gegenüber auf
Semper's neues Burgtheater, mit seinem
prachtvollen Rundbau in sieghafter Renais-
sance, weiter in der Ferne die halb-fonischen
Säulenanlagen der Universität, hinter der
endlich die zierlichen Doppelthürmchen der
kleinen gothischen Votivkirche sichtbar
wurden. Seitdem bin ich das unheimliche
Gefühl einer kaum definirbaren Kühle, einer
Art kosmopolitisch-frostigen Grandezza, die
mir der erste Eindruck machte, nie wieder
ganz los geworden. Auch hier möchte man
sagen: »Weniger wäre mehr gewesen.«

Wir wollen die todten Baumeister nicht

1 CK

Entwurf für das Sezessions-Haus.

f

J. M. OLBRICH-WIEN.
 
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